Aus dem S–Bahntagebuch

gewidmet allen Mitfahrern


3. November 2004
Stell Dir die Szenerie vor, ich mit Blick in Richtung Bahnhof, der da seit hundert Jahren steht, im Rücken das achtspurige Adlergestell und über mir, zum einen die mächtige, noch halb belaubte Krone einer Platane und zum andern eine leicht im Wind schwankende Peitschenlaterne, an deren Mast einst zwei Strahler hingen, von denen heute aber nur noch einer übrig ist. Dieser Bahnhof, Zeuge eines präautomobilen Zeitalters, diese übrig gebliebene Laterne, Zeuge einer Zeit, in der die gigantischen Peitschen Kunde taten von Lenins Formel die nie aufging: "Elektrifizierung + Sowjetmacht = Kommunismus!" Aber das. was ich erwähnen wollte, war der übrig gebliebene Zeuge des letzten Sommers, der Stars, der auf dem amputierten Ausleger der Laterne saß. Verloren spöttelte er in den Novembermorgen. Kein typischer November, nicht feucht aber mit schon etwas angelaufenem Gold des Oktobers. Ja, im Oktober ziehen für gewöhnlich die Stare in Scharen von bis zu 50.000 Tieren. Warum saß er noch da? Hier könnte die Geschichte beginnen.

22. Oktober 2004
Ich fahre nicht nur zur Arbeit, sondern ja auch manchmal von der Arbeit nach Hause. Gestern hatte ich noch zu tun und bin später als sonst unterwegs gewesen. Im S-Bahn-Waggon traf ich auf eine, dem ersten Anschein nach, stille Atmosphäre, ganz anders als morgens, wenn ich mich immer fühle, als stünde ich vor dem ersten Klingeln im Windfang einer Schule. Also fand ich gleich einen Platz und setzte mich: Neonlicht wie im Leichenschauhaus, die Fenster nur noch schwarze Spiegel, nicht einmal mit den Augen konnte man der geschlossenen Gesellschaft entfliehen. Ich versuchte, mich ins Buch zu versenken, doch blieb ich mit den Gedanken an der Wagenaufhängung hängen. Früher spürte man noch das Reisen auf Gleisen, man war bewegt. Die Fahrgemeinschaft, rüttelte und schüttelte sich im Takt der Schienenstöße. Man wusste mit jedem Ruck käme man ein Stück voran. Und bei der richtigen Geschwindigkeit und Dauer der Fahrt wurde man in den Schlaf gewiegt. Man lag regelrecht im Gleisbett, denn vom Stuhlbein über Blattfeder und Rad war alles aus Stahl. Heute scheint das nicht so zu sein. Heute schwebt darüber hinweg - hofft man. Vielleicht wird rings um die Bahn nur die Kulisse umgebaut, man sieht ja nichts - nachts.
Doch bald nach der Eingewöhnung in die Verhältnisse des Abendzuges, stelle ich fest, dass die Ruhe nicht so allumfassend ist, wie zunächst angenommen. Ich zähle dreiundzwanzig Menschen im Waggon. Jeder sitzt so einzeln, so für sich, so verstreut, wie Tiere auf der Weide in der Mittagshitze. Nur die Sitzgelegenheiten geben ihrer Anordnung eine Struktur. Doch - und vermutlich genau wie die anscheinend teilnahmslosen Kühe auf der Weide - kommunizieren sie miteinander. Ein verhaltenes Räuspern des älteren Herrn links vor mir, kurz darauf ein Hüsteln irgendwo hinter mir, nach kurzer Pause schnäuzt sich die Dame rechts am Fenster. Und immer so fort. Unwillkürlich kommt mich ein Würgen an und ich gebe Laut. Was aus meiner Kehle bricht ist ein kurzes trockenes Bellen. Wohl doch zuviel geraucht? Oder vielleicht wollte mein Unterbewusstsein sich den anderen zu erkennen geben. Nicht den anderen direkt, natürlich auch deren Unterbewussten. Vielleicht kommunizieren wir alle in einer Art Ursprache, die auskommt ohne jede Begrifflichkeit. Wie die Kühe auf der Weide: "Ich bin hier!" "Ich auch." Vielleicht sind wir nichts anderes, so getrieben vom Arbeitsplatz und am Morgen wieder dahin zurück?

1. Oktober 2004
Ich komme immer etwas nach links ab. Das muß ich überwinden. Noch einmal. Es gelingt schon besser. Man muß einfach die Straße imaginieren. Links die Fassade des Industriekolosses (vor den Kellerlichtern läuft sogar noch ein Geländer), über mir der Oktoberhimmel, der von schräg vorn nach schräg hinten über die Straßenschlucht zieht, rechts das Mietshaus, das sich in diese Industrielandschaft verirrte, es hat seine verrußte Fassade hinter rankendem Wein versteckt. Der Wein ist empfänglich für alle Farben des Herbsts. Vor dem Haus anthrazit die Straße in die silberne Bänder zum Führen gelber Bahnen eingelassen sind. Am Saum des Gehsteigs stehen Bäume. Erzwungener Ahorn doppelt geschützt. Zunächst in einem Holzgestell, von dem halten gedrillte Seile den Baum am Hals. Und im Abstand eines Meters graue schwere Bügel, damit der Sproß nicht umgefahren wird. Käme ich nach rechts ab, knallte ich dagegen. Rechts ist die Angst größer als links. Dabei sage ich mir immer: Geh gerade aus! Aber was mich abkommen lässt ist die Ahnung, es könnte sein, dass ich womöglich doch nicht geradeausgehen kann. Dann lieber nach links als nach rechts abweichen. Ein paar Schritte koste ich den Kitzel noch aus. Öffne die Augen und bin noch auf der Mitte des Gehsteigs der Ostendstraße. Einziger Passant auf dem Weg von der Kantine hier zu diesem Rechner.

16. Juli 2004
Was es Neues in der S-Bahn gibt? Sie ist unmerklich in den Sommer gefahren. Nur die Düfte weisen auf den Wechsel der Jahreszeiten hin. Vor einer Ewigkeit überraschte der Flieder. In Regenpausen wollte er die ersoffenen Bienen locken. Seine mattvioletten Blüten unter grauem Himmel waren kaum zu sehen. Dann - kaum erinnere ich mich noch der richtigen Reihenfolge, obgleich die Gerüche meine einzige Wahrnehmung sind und waren - beherrschte mich der Geruch der Robinie. Der verlockende Duft des Flieders überwältigt einen schon. Der einer Robinie lockt nicht die Lust, er entspricht seiner ungezügelten Entfaltung. Fast vulgär drängte er sich einem auf. Aber nun ist es fast vergessen. Goldregen, Liguster und was es alles gab. Wichtig war der Holunder am Damm der Bahn. Manchmal war es doch so warm, dass die Fenster geöffnet werden konnten. Holunder, verglichen mit Robinie, die einfach platt macht, hat einen so belebenden Duft. Die Luft schmeckt. Sie macht Appetit. Es dürstet einen nach Holundersekt. Und Blütensteak zu braten, habe ich wieder nicht geschafft.
Und jetzt? Es richt gerade noch nach Linde! Der Lindenduft gehört neben dem Holunder zu meinen unbedingten Favoriten. Seit Wochen bin ich allerdings vom Taschentuch abhängig. Und das liegt nicht an der britisch-feuchten Luft, die unablässig die Zweige bewegt. Ich muß mir eine gewisse Empfindlichkeit eingestehen. Ich weiß nicht worauf ich allergisch reagiere. Wenigstens einmal während der Fahrt niese ich energisch und muß meine Nase trocken legen. Ist die Ursache Kot von Federmilben, der vom Schlaf noch in den Nasenhaaren hängt, oder das Parfüm mitfahrender Frauen oder doch etwa das, was noch an Natürlichem in der Luft liegt? Es wäre traurig, wenn man das, was man liebt nicht aushielte. Linden oder Gräserpollen - wenn das, was Wonne verursacht, mir die Luft zum atmen nähme.
Wie hinter einer Milchglasscheibe steht heute der Fernsehturm am Horizont Berlins. Die Stadt wirkt traurig und verlassen ohne den Sommer. Immerhin an den Gleisen steht Grün und kennt noch den Kalender.

24. Juni 2004
Wieder hatte ich kaum einen Blick für das mich eigentlich Umgebene. Nur auf der Brücke hob ich den Blick und schaute über den morgenklaren Fluß. Mein Buch, "Der Fährtensucher", imaginierte um mich einen Wald. Die mir gegenübersitzende Reihe gab auch nicht viel her. Vor den Bäuchen stand: "Aus! Ab nach Haus!". Mehr war auf dem Titel des Kuriers nach dem gestrigen EM-Spiel nicht zu lesen.
Viele Sitznachbarn an denen sich meine Schultern rieben wechselten unbemerkt, bis Stimmen - eine Stimme - mich zurück in die S-Bahn riß. Mein Unterbewusstes hatte nur eine Person wahrgenommen, doch der unterhielt sich mit wem. An meiner linken Seite war zuvor auch nur ein Platz frei geworden. Und vor den Knien des Sprechenden stand noch immer die üppige Verehrerin der Gothik mit ihrem Rad. Vielleicht hatte mein neuer Nachbar ein Handy mit Headset und war permanent mit seiner Liebsten verbunden. Erst als er begann unrhythmisch mit dem Fuß aufzustampfen, war mir klar, dass da etwas nicht stimmte.
Etwas nicht stimme! Was liegt alles in diesem Wort? Richtig sein, passen, Stimmung, ja "konveniere" gibt der Thesaurus aus. Konveniere hat die deutlichste Entsprechung in "gefalle". Es gefällt nicht wenn einer mit sich spricht.
Mit gepresster Stimme, wie im Hörspiel, jemand, der etwas heimliches oder unheilvolles verkündet: "Das hätte ich ja nicht gedacht…. noch mal davon gekommen….vielleicht so….beinahe noch erwischt…….kann'de mal seh'n…" Ich konnte nicht alles verstehen. Ich sah scheinbar ungerührt weiter in mein Buch, las sogar noch ein paar Zeilen oder gab mir den Anschein, selbstvergessen durch das gegenüberliegende Fenster zu stieren. Alle taten so, außer einer Frau mit sechs Goldringen, die einen verkniffenen Blick warf.

14. Mai 2004 - Man weiß nicht, was man denken soll
Als ich zu Mittag aß, in mir selbst versunken, sah ich drei Herren, die über meinen Kopf hinweg aus dem Fenster starrten. Sollte ich mich nun neugierig oder gelassen zeigen. Vielleicht schauten sie nur etwas an, was mir schon längst vertraut war. Nach Sekunden drehte ich mich natürlich doch um. Und zwischen der Häuserlücke, durch die man bis über die Spree und weit über Berlin blicken kann, stand ein Flugzeug im Himmel. Sein Bug war emporgereckt und es flog doch noch ein bisschen. Es war eine große, ganz gewöhnliche Maschine und keine Tausend Meter wagerecht vorm Fenster. Und zögerlich entschwand sie den Blicken von uns vier Männern. Was hinter der Halle die uns den Blick verstellte passieren mochte?
Grübelnd und erinnernd drehte ich mich nach einer Minute wieder um, ehrlich gesagt, in Erwartung Rauchschwaden zu sehen. Und da war es wieder. Diesmal nicht im Profil und mit erhobener Schnauze, sondern auf einer Flügelspitze stehend. Und flach über dem Boden! Diesmal über Tausend Meter weit und die drei Männer waren längst schon weg. Es bewegte sich so langsam, wie es sich für ein Flugzeug nicht gehört. Wie viele Menschen mögen in ihm sitzen, dachte ich. Zweihundert hätten bestimmt hinein gepasst. Das Flugzeug ging wieder in die Waage aber die Höhe verringerte sich zusehends! Es schien schon die Baumwipfel zu berühren - und plötzlich war es weg. Fünf, sechs, sieben, acht Sekunden später, schien mir, als würde ich eine leichte Erschütterung spüren. Als würde eine Straßenbahn vorbei fahren. Vielleicht war es auch nur das. Ich drehte mich noch öfter um, um zu sehen ob Rauch aufsteigt. Ich dachte an New York, Madrid und an unser großes Glück bisher!
Wie selten wird man sich dessen bewusst!

1. April 2004
Als ich heute morgen mitten auf der Strecke meinen Roman zuschlug - er kam unvermittelt an sein Ende und entließ mich in ein Vakuum - hob sich mein Blick in die Waagerechte. (Beim Lesen hält man den Blick doch eher gesenkt.) Und mir gegenübersitzend saß ich selbst:
In einem weiten Pullover, mein Haar, zufällig gescheitelt, fiel mir glänzend auf die Schultern. An der Seite hing die grüne, zerfranste Umhängetasche, voller loser Blätter. Und die Kotletten wuchsen sich aus bis zu einem Flaum am Kinn. Ich schaute mir in die Augen, doch das andere Ich sah mit verklärtem Blick aus dem zerkratzen Fenster.
Die Zeit zieht Schleifen. Ich rechne: genau dreiundzwanzig Jahre! Das gibt's doch nicht! Natürlich bin ich dass mir gegenüber nicht ich selbst. Ich könnt es aber sein. Wie der so da sitzt. Jetzt sehe ich auf der Tasche auch noch das Zeichen, das ich schon damals auf die meine mit Kugelschreiber gekritzelt habe. Nein, kein Mercedesstern. Etwas mehr. Das im Kreis erinnert an die Lebensrune. Nur sie steht Kopf. Das Antiatomzeichen wird heute Friedenszeichen genannt. Die langen Haare haben mir und erst recht denen vor mir noch Probleme beschert. Vielleicht trüge ich sie wieder lang, wäre mein Haar noch genauso dicht. Der Pullover, die Hosen die Schuhe! Der Flaum an den Wangen und erst recht der traumvolle Blick - das bin doch ich! Ich könnte mein Vater sein! Was ist geschehen? Wo ist die Zeit geblieben? Wie damals, so auch heute, tragen Gott sei Dank nicht alle ihre Haare gleich. Und Viele rasieren sie sich gar ab. Damals wie heute setze Haare Zeichen. Auch zwischendurch. Popperlocken und Vokuhila-Friesuren, lange Zeit hatte man nichts zu sagen.
Und nun scheinen die Söhne ihre Väter an etwas erinnern zu wollen. Ehrlich mal, wie es lief läuft es nicht mehr und die am Ruder stehen halten es immer verkrampfter. Sie wollen an dem festhalten, das Steuer steht für Macht und Besitzstand. Zuerst dringen die Fluten in die unteren Decks!
Wohl wirkt das hallo der Jungen gemütlicher, schon da es versöhnlicher aufgenommen wird. ‚Wir waren auch mal jung. Wir trugen auch die Haare lang. Keiner kommt ungeschoren davon. Es sei denn er steigt aus und sein Zopf verkommt zum Rattenschwanz.'
Warum hat damals die Zeit keinen Kabolz zu meinem Vater geschossen? Den zog es mit Zwanzig schon in einen Anzug. Nun, wenn er gut drauf war zeigten sich Schnittflächen beim Jazz. Ja, über Musik läuft die Verständigung! Vielleicht ist das der Punkt. Zwischen den Jugendjahren meines Vaters und den meinen lag Woodstock. So trennen uns Welten. Und das eint mich mit meinem Gegenüber. Seit 69 wird Haltung mit Stromgitarren gezeigt. Gezeigt und auch verkauft. Punk ist Musik von Fünfzigjährigen für kiffende Fünfzehnjährige. So, jetzt muß ich zur Vorstandsversammlung meines Vereins.


19. Februar 2004
Meine lieben Mitreisenden mögen mir verzeihen, daß ich sie keines Blickes mehr würdige. An statt zwischen ihnen zu weilen (oder besser: mit ihnen durch die Stadt zu eilen) entdecke ich den Himmel, nehme an einer Freundschaft teil, liebe, zeuge, ziehe auf, erlebe Schreckliches, Schönes, Obszönes, setze mich mit dem schrecklichen Teil der deutschen Geschichte auseinander, schwärme für die Sprache der Symbole und wechsele immer wieder zwischen den mikroskopischen, sinnlich erfassbaren und unendlichen Welten. Ich befinde mich auf der Suche nach dem großen Plan, nach der großen Formel. Und wo hin das führt, kann ich nicht wissen. Natürlich geht es um Harmonie. Der Weg dort hin führt vorbei - oder gar hindurch - durch Liebe und Tod. Hautnah folge ich einem geschassten Minister, dessen Frau am Tag seiner Abdankung auf offener Straße verblutet ist. Sein bester Freund, ein Astronom, ist als ihm die höchste Erkenntnis kam von einem Meteoriten erschlagen worden. Zwischendurch geht es immer wieder um das Ästhetische, um das Schöne, um das Ideal, dem sich alle Bemühungen zu nähern versuchen.
Und während sich das Erhabene aus den Buchstaben schält, schaukele ich von Neonlicht beschienen durch die Stadt. Die Fenster sind von Vandalen bis zur Blindheit zerkratzt. Die Gespräche, vor denen ich meine Ohren verschließen kann, drehen sich um das gestrige Fernsehprogramm und um das morgige Wetter, aus dem Walkman vis-à-vis dringt aggressive Musik und ich beschreibe nicht, wie es richt. Ich bin weit fort, weit jenseits von Ostkreuz und Schöneweide, bin in Rom, im Panteon. Zweitausend Jahre gerinnen in einem Punkt, in mir. Ah, und da schlage ich das Buch zu, eine Achthundertseitenwelt von Harry Mulisch, und bin wieder der Verkehrsteilnehmer, einer von Millionen, die täglich dahin fließen im Berufsverkehr.

Sommer 2003
So ist das! So war das! Nun liegen sie alle da. Auf dem Herrenklo in der fünften Etage. Zu Tausenden.
Imposant bis aufgeblasen sahen sie aus, auf ihrem Hochzeitsflug, vor dem Regen, als schwüle, heiße, aufreizende Winde sie in höchste Höhen riß. Sie folgten dem Klang, der geflügelten Jungfrauen, die durchsichtig fast, mit schlankem Bein, durch alle Himmel taumelten. Zerbrechlich, doch immer wieder überlegen, stiegen sie empor, höher und höher mit verführerischem Gesäusel. Angelockt verschmolzen die Geschlechterwolken und millionenfach vollzog im Abendhimmel sich die Ehe. Und schon im höchsten Augenblick war ihr Werk getan. Kein Sohn wird sie je narren. Nach dem Höchsten kann nichts höheres mehr sein. Was bleibt ist Abgesang. Wenn auch im großen Chor, taumeln die Herren wirr, dem falschen Lichte folgend, in ihr Gräberfeld, überlassend den Frauen die Pflicht, die jede für sich die Brut sucht zu nähren, mit Warmblut, sich opfernd für einen Tropfen, der die Chance auf Fortbestand vertausendfacht.
Doch ich bin mir sicher, daß dieser Hochzeitsflug der ungelittenen Insekten, der sich im Verhältnis zu unserem Jahrhundertleben als Moment ausnimmt, voll individueller Schicksale steckt. Es gibt kein primitiv. Es ist auch ihnen nicht gleich, wer mit wem. Und der Tanz der Frauen im Abendhimmel ist kein Ballett nach festem Programm. Da gibt's gewiß Intrige, Neid unter den Damen und Faustrecht unter den Herren. Und die Eiligen docken schon an, die dreisten jagen dazwischen, andere können sich unbeholfen ewig nicht entscheiden, wieder andere nehmen alle. So setzt sich durch, was sich durchsetzen muß. Die individuell geeignetste Kultur der Werbung.
Derweil ich die toten Herren hier
zähle, beginnen die Weibchen deren Schicksal zu erfüllen. Einzeln suchen sie uns Warmblüter. Unser Lebenssaft ist der ihre. Und haben sie uns erwischt, wächst ihre Brut in unserm Blut. In die Spree und in jede Regentonne werfen dann die Mütter ihre Frucht. Und was Fischen, Reptilien und Trockenheit trotzt, schließt dann den Kreis.
Ich bin ergriffen von diesem harten Überlebenskampf und dennoch den Wesen feindselig gesinnt. Mögen sie mich verschonen.

Juni 2003
Heute habe ich erst in der Straßenbahn die Augen geöffnet und mich an drei Kindern erfreuen können, da sie doch weitaus unverblümter und kommunikativer miteinander umgehen als wir ollen. Da sitzen diese kleinen Menschen, selbstbewußt und fahren wach und in ihrer eigenen Welt gefangen, durch die Stadt der Erwachsenen. Maximal fünfte Klasse, drei besondere Schüler, die sicher vorzeitig auf das entfernter gelegene Gymnasium fahren müssen. Ein zarter Junge, stolz und schön, wird verhalten angehimmelt von seiner Klassenkameradin. Diese gewiß einen halben Kopf größer als er und doppelt so breit. In diesem Alter eilen die Mädchen in ihrer Entwicklung den Jungen voraus. Der eher durchgeistigte Knabe weiß mit ihren Scherzen nichts anzufangen. Die drei sitzen vorn hinter dem Fahrer, ich stehe in der Mitte des Wagens. Die beiden Jungs sehe ich nur von hinten, der eine schaut nur zum Fenster hinaus, der Jüngling unterhält sich höflich mit dem Mädchen. Sie sitzt schräg über dem Gang, ihm gegenüber. Eigentlich ist sie die einzige die plappert. Nur manchmal hält sie inne und beobachtet in dem Gesicht des Jungen, wie ihre Worte wirken. Sie kann die Bewunderung nicht unterdrücken, da diese sich in diesen Blick mischt. Es sind die einzigen Augenblicke in denen sie sich selbst verläßt. Zwei schon so verschiedene Menschen, kaum zehn Jahr. Vielleicht verschiedener noch als wir, wir großen. Da sie noch so rein sind. Ihre Mutter mußte schon das Zuhören lernen, sein Vater trägt bestimmt Verantwortung und mußte sich daran gewöhnen, das Wort zu ergreifen.
Ach, schade, daß ich aussteigen muß. Aber vielleicht fahren wir morgen ja wieder. Ich sah sie heute nicht das erste Mal.


Frühling 2003

 

Das kann man unverhohlen Schicksal nennen, was mir allmorgendlich widerfährt. Auch dieses Schicksal ist zu einem Teil selbstbestimmt, denn ich hätte anstatt mit der S-Bahn, ebensogut auch mit dem Automobil fahren können. Was dann geschieht, wenn sich die Türen öffnen und dann die Fahrt beginnt, liegt nicht in meiner Hand. Ein Platz wird frei und es ergibt sich eine Viererkonstellation die eine Folge von mehr als nur vier Ursachen ist. Wer hat wann auf meinem Platz gesessen? Wäre Gesundbrunnen nicht der eine ausgestiegen und hätte somit nicht seinen Platz jener Person geräumt, die gerade Greifswalder Straße in die Straßenbahn wechselt, ..., hätte ich einen Moment gezögert und der ältere Herr wäre vor mir in den Waggon gelangt...?
Sechs Hände zu drei Paaren kann ich verstohlen um den Rand des Buches beobachten, das in meinen Händen liegt. Mein Buch versucht, mich Fontanes Spuren folgend, auf Wanderungen jenseits des Tweeds einzuladen. Meine Gedanken wandern meinen Blicken folgend über dreißig Finger. Zehn kurze kräftige, die in der Lage wären Bewährungsstahl zu biegen, mir gegenüber. Zehn schmale manikürte, bei allem Chic und goldenem Zierrat erzählen sie eine Geschichte, die ihren Höhepunkt schon überschritten hat. Und links neben mir, zehn glatte, dralle Finger, mit Nägeln, ausgefranst, daß man sich Sorgen machen muß.
Die Nägel mir gegenüber reinigen sich gegenseitig. Irdene Sicheln des vergangenen Tages, die erst am Morgen verblassen, kurz bevor diese Hände wieder frische Erde graben. Aus der Tasche der Nachbarin drei kurze, zwei lange und wieder drei kurze Pieptöne. Rasch liegt das Gerät in ihrer Linken und gleich Vogelschnäbeln picken die roten Nägel der Rechten die Tasten. Links fliegen von Zeit zu Zeit die Finger an den Mund.
Gestern Abend habe ich eine wissenschaftliche Arbeit über die Arbeit gelesen. Nun gibt es ja unterschiedliche Theorien, die sich mühen, die Antwort auf die Frage wodurch der Affe zum Menschen wurde zu geben. War der aufrechte Gang, die Sprache oder gar die Verkürzung des Zeigefingers das ausschlaggebende Ereignis der Evolution? Nur unsere Hand ungleicher Finger ist in der Lage, ein Werkzeug geschickt zu benutzen. Diese These finde ich sehr interessant. Doch was wäre unsere Hand ohne Nägel? Ohne hätten frühere Stadien der Evolution keine Beute gerissen, unsere affenartigen Vorfahren keine Bananen geschält und sie wären an ihren Läusen zugrunde gegangen.
Und wie man heute sieht, machen noch immer die Nägel das Individuum aus. Die Dreiklassengesellschaft hat sich um mich versammelt: Der arbeitende Mensch, der Arbeit und Kapital disponierende Mensch und der, der hinten runterfällt. Meine Hände halte ich bedeckt. Mit einem Buch. Wohl bin ich eher intellektuell? Aber die Intellektuellen zählen sich ja nie mit, halten sich ja selbst eher für daneben.
Und zurück zum Schicksal, ob vorbestimmt oder nicht. Die Erkenntnis bedarf immer außergewöhnlicher Konstellationen. Und die Erkenntnis ist doch, bewußt oder nicht, Voraussetzung unserer Entwicklung.


Und wieder S-Bahn gefahren. Und wieder Gesichter. Das Frühjahr hat sie alle geputzt. Die Sonne ist zum Frühaufsteher geworden. April steckt noch im Mai und weht tiefgraue Streifen über die Stadt. Bricht die Sonne durch, klärt sie alles auf, dann erzeugen Reflexe Gesichter, dort wo zuvor keine waren, zunächst an Glas, an Scheiben zwischen den Abteilen.
Nun beuge ich mich so, daß sich ein Reflexgesicht vor das des dahinter sitzenden schiebt. Ein Fusionsgesicht entsteht. Eine Fratze, halb Mann, halb Frau.
Was macht eigentlich ein Gesicht? Augen, Nase, Mund - Pünktchen, Pünktchen, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht. Was, was macht den Ausdruck? Woran erkenne ich den Freund, woran den Feind? Gesichter sind zum Verlieben, können aber auch zum Fürchten sein. Insbesondere im Berufsverkehr. Ein Blick, man schaut sich in die Augen. Mir fällt ein Streit mit einer Freundin ein. Sie sagte, die Stimmung des Menschen ließe sich am ehesten in den Augen ablesen. Es scheint trivial, allerdings widersprach ich ihr. Der Mund, so meine Meinung, ist am ehrlichsten. Ich mußte es wissen, denn ich hatte den ihren vor mir.
Augen und Münder habe ich hier in der Bahn genug. Ein Blick, da begegnen sich die Augen. Man schaut, ob der andere guckt. Glaskörper nennt man das, womit der andere einen anblickt. Um so mehr Licht, um so weniger läßt die Pupille dich ein. Die Krähenfüße an den Außenwinkeln erzählen dir die Geschichte deines Gegenübers. Aber da der andere guckt, schaut er bewußt. Er benutzt das Organ Auge. Und hält mit diesem deinen Blicken stand. Der Mund hängt unbeteiligt rum, ein ganze Stück unterhalb. Er nimmt im mindesten Fall Grundstellung ein. Manchmal schmückt er sich mit einem Lächeln. Aber die Mundwinkel geben die Tendenz an, wie ein Lebensfreudediagramm. Und da im Mundbereich die Muskel-Knochen-Proportion viel stärker zugunsten der Muskeln ausgeprägt ist, sind dort die Spannungen auch eher sichtbar. Vom Mund aus vollzog sich schließlich die menschliche Entwicklung. Das Vegetativste was wir haben, ist der Verdauungstrakt, abgeschlossen an den jeweiligen Enden mit einem Schließmuskel. Ohne Stoffwechsel wäre gar nichts. Schließmuskel? Was für ein dummer Gedanke. Einige halten den Mund im vorzugsweise offen, bei anderen ist er immer in Bewegung. Die senkrechten Fältchen auf den nicht so prallen Lippen gegenüber, woher kommen die mir bekannt vor. Insbesondere steht der Mund kurz davor ein "O" zu tönen. Jetzt höre ich im Geiste Kinski mit seinem Erdbeermund, natürlich von Villon. Aber der würde sowieso von allem naschen. Die Lippen, wo auch immer sie herkommen, sie variieren in Höhe und Breite um mindestens 300 Prozent. Man stelle sich das bei den Augen vor oder gar in Bezug auf die Körpergröße. Es gibt Münder mit Lippen, die sind sechs mal so lang wie breit, andere sind nicht mal das Doppelte ihrer Höhe breit. Der Mensch hat sich entwickelt, rings um den Schlauch, den der Verdauungstrakt so darstellt. Das ist schön, das hat zu einiger Vollkommenheit geführt. Aber reduziert man dieses komplexe Geschöpf einmal auf sein Wesen, dann bleibt wieder das ganz Ursprüngliche übrig. Und deshalb meine ich, am Mund, am Mund kannst du am ehesten etwas über seine Stimmung erfahren. Vielleicht sollte man einmal einen Gehörlosen, der mit dem tastsinn sieht, fragen, was im Gesicht am lautesten spricht.
Aber halt mal! Ist nicht der Kuß Beweis der ganz ursprünglichen, ganz natürlich unschuldigen Sinnlichkeit des Mundes?

Frühling 2003
Auf dem Bahnsteig Treptow strecken die Blätter der Kastanie ihre Finger aus. Steige ich dort aus, winken sie mich heran. Die zarten, lindgrünen Finger, locken mich an das Ende des Bahnsteiges. Von dort habe ich einen Blick auf's Meer. Nein, auf den Fluß, der träge durch die Ebene fließt, die Ebene, die hier vor gerade einmal 150 Jahren noch anzutreffen war. Heute schon gar nicht mehr wahr! Der Fluß schlängelt betongefaßt zwischen den Häusern hindurch. Menschgemachte Geologie. Die gesäumten Ufer kanalisieren sogar den Wind, der über die Wasser streicht. Wo er noch zufassen kann, kräuselt er es. Gerade wie eine Gänsehaut die entsteht, wo man hinhaucht. Der Liebsten im Nacken, in der Kniekehle. Ich blinzele der Morgensonne entgegen. Gegenüber, aus Stralau grüßt mich das Kreuz der schiefen Kirche, klein geworden und längst überwuchert von den Schloten, deren Feuer halb Berlin heizen. Offenbar sommers wie winters.
Du hältst es für selbstverständlich, daß ich dort stehe. Das ist es keineswegs. Die S-Bahn muß sparen. Auch im Berufsverkehr fahren vorrangig Kurzzüge. Die sind optimal ausgelastet, so, daß sich die Leute nahe kommen. Diese kurzen Züge reichen jedoch nicht an die Enden der Bahnsteige. Und die Bahnsteige sind lang. Ich muß noch laufen an sein Ende. Und stehe da: allein! Versonnen, vielleicht versponnen, feiere ich mein kleines Ritual. Grüße die Wasser, grüße den Fluß, grüße die Sonne, es ist mir Genuß. Und ich muß wirklich die Beine in die Hand nehmen, sehe ich dann meine Bahn einfahren, die mich in Richtung Zeuten bis Schöneweide mitnimmt. Und oft stand ich da, oft stehe ich da. Und nicht um einen Geschlechterkrieg anzuzetteln, sondern um einfach eine Beobachtung mitzuteilen, muß ich sagen, daß, wenn in einem von zehn Fällen, dort, am Ende des Bahnsteigs schon jemand stand, es sich immer um einen Mann handelte! Und das, obwohl das Personenaufkommen in meiner Verkehrszeit zu, sagen wir 67 Prozent von Frauen aufgebracht wird.

Ohne Augen, nein. Sie saß mir in der S-Bahn gegenüber und hielt ihr Rad. Schwer zu sagen, wo zwischen zwanzig und dreißig sie angelangt war. Das leicht gesträhnte Haar nach hinten gezwungen, gab es die schöne Form ihres Gesichtes preis. Das Top, wahrscheinlich sagt man dazu Bluse, ließ frei, was der Latz beim Kind bedeckt. Eben breit ausgeschnitten, aber man sah nicht mehr als erlaubt. Das Brustbein nur soweit die Schlucht beginnt. Und jede Schwelle, über die die S-Bahn fuhr, versetzte das Werk in Schwingungen. Sah sie mich an? Ich sah sie an. Und unübersehbar. Aber sie ließ mich nicht ein, ließ mich nicht rann an ihre Augen. Immer wieder flehte ich sie im Geiste an: 'Nimm Deine Sonnenbrille ab!' Vielleicht wäre dann alles gut gewesen, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hätte ich sie angesprochen, oder irgend etwas gesagt, vielleicht aber auch nicht.

4. Februar 2003
Eigentlich wollte ich mich ja über die Frau schräg gegenüber auslassen, jene, zu der die violetten Haare so absolut nicht passen, genauso wie die rote Handtasche nicht zur Farbe des Haars. Stell dir Helmut Kohl mit Piercing vor und zwar zwischen Unterlippe und Doppel,- Dreifachkinn. Ich meine so einen kegelförmigen Stecker und weil Helmut sich noch ein bißchen gewöhnen muß, zieht er die Unterlippe periodisch zurück und läßt sie leise schnalzend wieder los. Nein, die Frau mit der Handtasche hatte kein Piercing, ich glaub nicht mal dort, wo man es nicht sieht, Bauchnabel, Brustwarze oder sonstewo. Die Frau sah sowas von mittelalt und fade aus, man kann sich richtig vorstellen, wie sie von einer launigen Friseurin, eher irgendeinem Zufall, oder einem Irrtum folgend, noch wahrscheinlicher aber völlig unreflektiert, in den Farbtopf mit der schrillen Farbe getunkt wurde. Hat sie mit ihrer roten Tasche vor dem Spiegel gestanden?...
Ich könnte mich noch weiter auslassen, auch über die naturothaarigen Mitfahrerin, anschließend in der Straßenbahn, die entweder ihre Schuppenflechte oder getrockneten Sperma aus ihrem Haaransatz polkte. Dreißig Zentimeter vor meinem Gesicht! Aber ich schreibe dir das ja gar nicht, und weißt du warum? Weil mir aufgefallen ist, daß ich immer nur über Unsäglichkeiten schreibe, bei denen die beobachteten Menschen schlecht wegkommen. Ich dachte, daß ich voller Achtung und Toleranz gegenüber anderen sein würde, aber ich bin ja der voyeristische Geiferer oder der geifernde Voyeur. Also schreibe ich das nicht mir all den roten Haaren.

28. Januar 2003
Über den Himmel schreiben. Immer über den Himmel. Dabei bin ich heute S-Bahn gefahren, könnte darüber berichten. Aber auch über der S-Bahn war ein Himmel. Selbst nachts ist Himmel über allem. Und Himmel ist nicht nur Sonnenschein und Sternenpracht. Auch der Himmel, der gar keiner ist, ist Himmel, genau dieser, der sich grau und homogen zurückhält, und gerade über uns liegt, unauffällig und uns klein macht, indem er uns subtil aufs Haupt drückt. Jegliche Verbindung zum Kosmos haben wir verloren. Unter diesem Himmel erlebst du Provinz, hast keine Ahnung vom globalen, universellen. Über den kellerfeuchten Bürgersteig schiebe ich meine Schuhe. Schaue auf den Punkt, der sich einen Meter vor mir durch die Straße schiebt, vermutlich, weil er doch ein wenig glänzt, wegen der Feuchte. Hundekacke, Zigarettenkippe. Oh, Himmel. Und links eine Wand und rechts eine Wand und ich kann in der Mitte hindurchlaufen. Ungezwungen aber natürlich nur bis zur nächsten Kreuzung, denn dort mündet die Straße in einer anderen. Ich kann mich dann entscheiden, ob ich links oder rechts herumgehe. Ich habe aber auch schon ein Luftbild von Oberschöneweide gesehen, ich weiß was hinter den Mauern ist. Da sind andere Mauern, Häuser, Industrieanlagen, wieder Straßen, sieht hübsch aus, von oben, bei Sonnenlicht. Wirklich! Oder denkst du etwa hinter den hohen Mauern würden Riesenwesen lauern, die hinüberschauen, auf uns herab, so wie Clara in ihre Puppenstube schaut und Anton auf den Parcour an Autos und Figuren, die er ordnet, in die er Leben bringt? Ich müßte ja nur mal den Kopf heben und schauen ob da eine Riesenhand hinter den Schornsteinen hervor kommt. Aber das ist nicht vorgesehen. Und wozu auch? Ich kann ja sowieso nicht über die Mauer springen, ich muß ja da lang, da ist ja am Ende der Straße mein Arbeitsplatz.

13. Januar 2003

Schau in die Gesichter. Tief hinein. Du hältst Dich an das deine und läßt dich auch schon mal von krummen Gleisen sechzig Grad drehen. Du siehst im Schwenk nur müde, wenn nicht gar geschlossene Augen. Wen soll ich anrufen, um Gnade anflehen? Gott und Gewerkschaft, was laßt ihr zu. Warum befehlt ihr diese Menschen an die Werkbank, da sie doch schlafen wollen? Gut, die meisten schlafen ja, hier fällt sogar das Kinn auf die Schulter. Aber gleich strafft ein Zucken den müden Körper, der scheinbar geführt wird auf einem schmalen Grad zwischen Wachsein und Dämmern. Es schaut aus, als wolle sich dieser Mensch selbst quälen, dressieren und züchtigen. Und alle anderen sind nicht besser. Die daneben hat sich für Augen offen entschieden. Doch sie sind so schmal mit dünnem harten Rand. Sie sehen böse aus, dabei müssen sie es nicht einmal sein. Ich fange an ganz tief zu brummen. Erst unhörbar, dann kaum hörbar. Als spielte ich Didgeridoo, blase und atme ich gleichzeitig. So entsteht ein schwellender aber nicht abbrechender Ton. Die mir zunächst sitzen, blicken sich leicht nervös, aber unbewußt einige Male um. So wie Tiere auf der Weide, die auch nicht den Kopf drehen weil..., sondern einfach nur so, instinktiv, eben unterbewußt. Dann entspannen sich die Nahen, aber auch die anderen im Abteil sichtbar. Die noch wachen lehnen sich auf ihren Unterarm. Die schon entrückten, lassen sich auf die Schulter des Nebenmannes sinken. Woher wissen sie, daß da jemand sitzt und wie? Als hätten sie sich die Schulter vorher schon ausgesucht, als sie noch gar nicht wußten wie sie heute schlafen würden. Wir sind ganz schön aus Gummi, Puppen, mit steifen Gliedern aber rundum beweglichen Gelenken, sobald wir vollkommen entspannt sind. Manche Fahrgäste haben groteske Haltungen angenommen. Ich brumme und würd' was drum geben nichts anderes zu tun. Ich brumm' schon eine Ewigkeit! Irgendwann muß man ja auch mal an Nahrungsaufnahme denken, an Reproduktion überhaupt. Die Menschheit würde ja nicht weiter kommen, hörte ich nicht auf zu brummen. Und ich glaube ich bekomme von der für mich ungewohnten Art zu atmen irgendwann mal Kopfschmerzen. Ich schnappe nach Luft. Rasch kommen die meisten zu sich. Und interessant, die Menschen, die es nicht gewohnt sind, sich anzulehnen reagieren ganz verschieden. Einige schrecken scheinbar empört auf, nach dem Motto, das kann doch nicht sein, andere kosten jede Hundertstel Sekunde aus bevor sie dann verträumt und mit samtener Stimme um Entschuldigung bitten. Du, was soll ich sagen, in der Ewigkeit ist keine Zeit vergangen. (Oh man, das ist ein bedeutender Satz, der mir einiges über die Zeit und die Ewigkeit deutlich macht.) Aber die da wach wurden waren andere. Eben nach einer Ewigkeit Schlaf sind sie alle jünger erwacht. Die zuvor harten Augen flitzen herum und schienen sich bei allen nach dem Wohlergehen zu erkundigen. Oder sie, wie die anderen, schien über sich selbst verwundert. Aber wie sieht man sich selbst erstaunt in die Augen? Höchstens so nah an der Scheibe, da bekommt man ein zweites Gesicht. Stell dir vor, das eine holt eine Flasche Wein und das andere betrachtet sich still in der Abwesenheit des anderen.
 

11. Januar 2003  
Schon ist Januar, das Jahr ist neu, doch die Spuren des Alten sind im schmutzigen Schnee gegenwärtig. Junge abgehackte Bäume liegen alt und unansehnlich auf den Straßen. Die Schönsten hatte man vor einem Monat aus dem Wald geholt. Weihnachten ist vorüber. Ich habe mich mal wieder mit Maria abgegeben, genau wie vor einem Jahr. Im Jahresverlauf habe ich sie hier und dort gesehen, mich aber nicht weiter für sie interessiert.
Alle Welt himmelt sie an. Warum nur?
Maria ist höchstens halb so alt wie ich, doch ist sie eine Frau. Der Inbegriff einer Frau! Ich habe sie nur schön gesehen. In ihrem Gesicht ist alles wovon ein Mann träumt. Mädchenhaft zart und mütterlich behütend sieht sie am liebsten auf einen herab, als wolle sie einen an ihren Schoß drücken. Fängt sie dich mit ihrem Blick, so ist es entrückend. Oft haben wir zehn Minuten uns einfach in die Augen geschaut. Ich hatte dann immer den Eindruck, als wolle sie irgend etwas in mir ergründen. Ihr Blick kann so bedeutungsvoll sein. Oder erwartungsvoll. Manchmal fühle ich mich von diesem Blick derart unter Druck gesetzt, daß ich mich nackt fühle. Schamhaft sitze ich dann vor ihr, weiche ihren Augen und blicke auf ihr Kleid, den kleinen runden Busen und versuche unter ihrem langen Kleid die Form ihrer Schenkel und Waden zu ergründen. Fast könnte ich mit beiden Händen ihre Taille umfassen. Ihre Hände sind zart, fast durchscheinend.
Und obwohl sie das ganze Gegenteil einer Domina ist, wirfst du dich vor ihr auf die Knie, erniedrigst dich so tief es geht und drückst wollüstig dein Gesicht in ihren Faltenwurf. Falls du überhaupt an sie heran kommst. Eine so gut gewachsene Frau wie Maria hast du noch nicht gesehen. Jede Frau träumt von einer solchen Figur. Zart und in der Schwebe zwischen Mädchen und Frau. Ihre Mutterschaft sieht man ihr nicht an. Ja, sie hat ein Kind, aber der Vater spielt keine Rolle. Wenn ich es zulasse, dann läßt sie sich ganz auf mich ein. Ich glaube, daß sie es mit allen so macht. Warum ist man dieser Frau so hilflos ausgeliefert? Vielleicht weil sie einem sowohl das Gefühl gibt, immer für einen da zu sein und gleichzeitig weißt du, sie ist unerreichbar. Abgesehen von meinen Träumen ist noch nichts mit ihr wirklich passiert. Ich bin ich auch viel zu stolz um mich auf eine einzulassen, die so viele Verehrer hat. Und ich weiß warum sie so viele verehren. Weil die Traumfrau, die jeder Mann im Herzen trägt durch sie Gestalt annahm. Im Grunde ist sie eine unschuldige Hure, hat es mit keinem Mann und jedem getrieben. Nichts ist für einen Mann demütigender als das Weib, das sich auf einen einläßt, einen Hoffnungen macht, um am Ende unter dem Deckmantel der Keuschheit die Erlösung vorzuenthalten. Und gerade deshalb diente sie allen Heiligen und nicht nur denen zum Scheine als Wichsvorlage. Maria war schon im Mittelalter Pin-up-girl. Das ausgestellte Ideal unter Hochglanz, lautstark schweigend. Unser Traum doch ohne Blut.


Ich habe heute in der S-Bahn eine Umfrage gemacht. 56 Frauen und 38 Männern habe ich die Frage gestellt: "Führen Sie derzeit ein sexuell erfülltes Leben?" 41% haben die Frage nicht verstanden oder sind ihr ausgewichen, von den Frauen beantworteten 13% die Frage mit "ja" und 31% mit "leider nein", nur wenige äußerten als Antwort ein "es geht so". Bei den Männern hatte der überwiegende Teil mit "befriedigend" geantwortet, 29% entschlossen sich zu einem "ja" und nur 11% gestanden sich ein, sexuell unerfüllt zu sein. Interessant war die Verteilung der Antworten in Abhängigkeit vom Alter der Befragten. Oft wußten vorallem junge Frauen und ältere Männer mit der Frage nichts anzufangen. Man beachte: in der Zeit von 7:10 Uhr bis 7:40 Uhr sind weder Vorschüler noch Rentner mit der S-Bahn unterwegs. Frauen im Alter zwischen 35 und 50 waren sich in ihrer Antwort am sichersten.

Die S-Bahn war nicht so spannend. Donner über dem Zentrum der Stadt, am frühen Morgen. Ein Licht, wie man es in jeder Jahreszeit sehen kann, eines, das einen fröstelnd macht. Aber es ist warm. Durch einen Sommerregen bin ich gefahren. Nasse Hosen. Und die mit der ich immer fahre, saß mir gegenüber. Das erste Mal von nahem gesehen. Ernster Lehrling im letzten Jahr. Immer in schwarz, so auch ihr Haar und immer lesend, nur selten ein nervöser Blick. Heute dachte ich, entweder die nimmt Drogen oder wurde von ihren Eltern mißhandelt. Nun könnte ich sagen, daß sie sich heute ganz dicht hinter mich gestellt hat, wie es gar nicht ihrer scheuen Art entspricht, sie hat sich dann auch mir gegenüber hingesetzt, ja, aber ich glaube sie hat mich gar nicht gesehen und außerdem 19 und verhuschelt, nein wirklich.

November 2002
Gestern noch klirrende Luft, heute ist sie schwammig. Ein Brei, halbdurchsichtig in der Dämmerung. Der November macht seinem Ruf wieder alle Ehre. Und ich stehe angefeuchtet auf dem Bahnsteig. Ich komme nicht einmal auf die Idee, nach dem Fernsehturm zu suchen. Unsere DNS stimmt zu 98 Prozent mit der der Affen überein. Und zu welchen Teilen mit der einer Schnecke? Alle Sinne verkriechen sich in mir. Ich bin ein Dings, das da steht und von der Bahn in Richtung Zeuten abgeholt werden soll.
Plötzlich nehme ich doch etwas wahr, da es überrascht und völlig unpassend zu sein scheint. Ruggedigu, ruggedigu! Hinter mir, über mir. Flach auf dem Träger unter dem Dach, selbstverständlich grau wie ein Stein, sitzt, vermutlich mit angewinkelten Knien, die Taube. Ihr Ruggedigu klang anders als eine bloße Wortmeldung. Das klang nach Frühling und Lust. Tauben, so fiel mir ein, feiern das ganze Jahr über Geburtstag. Genau wie der Mensch. Da muß doch was sein, das dazu führt. Ein permanenter Trieb, fortwährende Lustbarkeit. Ich senkte meinen Blick auf meine Artgenossen. Wie sie da alle kamen, aus dem Loch, an dessen Rand die Treppe von der Straße her mündet. Vermummelt, verschlafen aber Mensch. Und es kamen immer genug Frauen, so daß ich nach den Männern nicht schauen mochte. Eine nach der anderen: Die rothaarige Mitvierzigerin. Ein kurzer, energiegeladener Schritt. Ich konnte mir richtig gut ihre festen Oberschenkel vorstellen. Dann kam eine junge Lange. Ihre Knochen müssen noch ganz biegsam sein. Wieder kam eine Ältere, mit einem Blick voller Sehnsucht. Dann eine Oberschülerin mit einem Blich voller Neugier. Eine kühle Frau wandelte die Treppe empor, deren Stolz zu brechen wäre. Dann kam ein gewaltiges Herz, ein Wesen, das mit gewaltiger Brust Wärme ausstrahlte. Ich drehte mich wie ein Brummkreisel, um jeder nachzuschauen und jeder entgegenzusehen.
Letztlich erwiderte auch eine Frau meinen Blick. Ich merkte es schon, obwohl meine Augen noch etwa in Hüfthöhe verharrten. Da ich ja kurzsichtig bin, beuge ich mich immer leicht nach vorn, um besser zu sehen. Auf fünf Schritt war die Frau mit dem karierten Rock, dessen Saum bei jedem Schritt eine Hand breit übers Knie schlug, herangekommen. Ich spürte wie sie mich ansah. Physisch spürte ich es, wie einen warmen Duschstrahl auf der Wange. ‚Wie macht das der Täuberich?', dachte ich bei mir. Kleidung macht keusch! Fast ist sie auf gleicher Höhe! Sie spricht mich an, nein schnalzt mit der Zunge, nein. Es ist so ein "Tztzt!" ein empörtes, eines, das all meinen Igel- und Schneckengenen zur Durchsetzung verhilft. Fehlte nur noch, daß jemand auf mich tritt.

 

29. Januar 2002

Berufsverkehr im Winter. Die Zäpfchen schlafen noch, die Stäbchen beschränken sich darauf, das Wesentlichste zu sehen. Mechanisch zum S-Bahnhof gelangt, noch keine Gedanken darauf verschwendet, ob der Tag freundlich sei oder nicht. Konturen sehen, die Uhren sind beleuchtet. Der Minutenzeiger droht. Er treibt mich in den Tag Ruck um Ruck. Und Schatten bewegen sich. Bewegen sich vor mir auf und ab. Eine Zeitungsseite weht eben zufällig über die Bahnsteigkante. Hörte ich ein Rascheln? Harte Absätze pochen auf hartem Stein. Nasenputzen hinter mir. Das Auge gewöhnt sich und sieht helle Flecken sich bewegen. Wesen in grauen Mänteln zeigen Gesicht. Ob freiwillig oder nicht. Das natürlich Licht im Waggon klärt nichts. Die Schatten stehen dicht gedrängt. Im Neonlicht dehnt sich das Spektrum von indifferenten Schwarz bis zum Braun. Die hellen Flecke lassen Gesichter ahnen zwischen Mützen und Schals. Diese haben Tarnfarbe angenommen. Sie heben sich kaum von dem Material der Wände ab, das selbst Graffitiversuche unsichtbar macht. Blasses Gemuschel mit violetten Stich. Nur Gehüstel in verschiedenen Tonlagen ist Indiz von Leben. Was für ein Leben? Was wäre, wenn die Türen aufsprängen und eine karibische Rhythmusgruppe einzöge. Nein, es ertönt eine therapeutische Stimme, die die nächste Station bekannt gibt. Und irgendwann wirst Du gerufen, Bahnhof-Schöneweide. Hinter dir schließen sich die Türen, doch die Schatten trägst du mit. Bist selber einer. Und sehnst stumm deinen Frühling herbei.

Heute ein Waggon verrutscht, habe im vorvorletzten gesessen und mir gegenüber drei jeweils etwa drei Meter große Jungen zusammen dreihundert Kilo schwer. Nicht so schlimm, wenn nicht dieses merkwürdige Selbstbewusstsein auffällig wäre. Der eine hielt es in den Händen: In seiner Mütze war "Number one" eingestickt. Des anderen Anorak war mit einer Applikation versehen, auf der irgendwas von "Super" und "King" geschrieben stand. Äußerlichkeiten prägen diesen Anspruch, also prägt dieser Anspruch Äußerlichkeiten. Oder Ideologie? Man darf nichts anderes als der Beste sein. Aber wer ist so cool, um nicht nach innen zu schauen? Und wer stößt in sich nicht auf Unzulänglichkeiten. All die unerfüllten und unerfüllbaren Wünsche. Warum redet dieser Mensch so laut? Aus Angst und Gewohnheit nicht gehört zu werden oder um zu vermeiden selbst etwas hören zu müssen. Es könnte ja ein Zweifel laut werden, es könnte irgendein Wort die wilde Fahrt bremsen, mit der man durchs Leben saust. Sicherlich habe ich total Recht. Gewiß hat eine Sicht auch etwas mit dem Betrachter zu tun. Aber ich habe kein Problem damit, nur 1.50 groß zu sein, selbstverständlich anderen den Vortritt zu lassen und nur dann etwas zu sagen, wenn ich gefragt werde. 21. Dezember 2001
14. Dezember 2001

Fehlte nur noch der Schnee für eine Winterromanze, aber dann wäre ich nicht mit dem Fahrrad gefahren, dann hätten nicht so viele Liter kristallisierende Luft mir den Mief aus der Lunge gekratzt. Mit dem Rad aber nur bis zum Bahnhof. Auf Schienen unterwegs zu sein, Bahnschwellen diktieren den Rhythmus, und über Brücken zu fahren, gebaut wie der Eifelturm - das holt einen immer zurück in vergangene Epochen, wenigstens ins letzte, wenn nicht gar ins vorletzte Jahrhundert, zumindest in die Zeit, in der die große Mobilität ausbrach, das Verkehrswesen der Schrittmacher der Gesellschaft war. Vergessen wir nicht, mit der Eisenbahn fuhr Deutschland zur Weltmacht auf... Gedanken eines ganz normalen Morgens in dem sich der Werktätige in Personenloren zusammendrängt und noch dazu wohlgelaunt, weil das anhaltend schöne Wetter ihm eine Kulisse aus eben beschriebener Ewigkeit und Bedeutung bietet. Oh Wirtschaftswunder und Geschichte. Berlin-Schöneweide. Morgengrauen ohne grau und anstelle eines Hahnes erklingt eitel und extralang der Pfiff einer Dampflok. Monströs und natürlich dampfschnaubend kam sie daher, fuhr über Schienenfelder durch die Industrielandschaft aus hart gebranntem Klinker. Doch hier findet nichts mehr statt. Die Lok ist ein Relikt aus jener Zeit in der es hier noch nach Ruß und Öl roch und Fünfzigtausend dem Ruf der Werkssirenen folgten. Zartes Eis auf der Spree. Kein Dampfer auf dem Wasser. Alles friedlich die gigantischen Werkhallen dienen nur noch als Kulisse, es ist doch alles nicht wirklich, nicht wirklich wie gedacht. Es ist nicht alles eigentlich falsch, nur anachronistisch. Und vor dem ehemals größten Kabelwerk sitzt vor acht, bei acht Grad Kälte einer der übrig blieb, auf einer kalten Backsteinmauer und trinkt Klaren.


? Mit dem Auto zur Arbeit zu fahren ist auch mal wieder schön. Wenn der Himmel langsam silbern und bronze anläuft und Van Morrison die Flamingos fliegen lässt. Ohne Tiefe ist der Himmel. Er wirkt wie eine Kulisse. Ich nehme einen Stein und werfe ihn dagegen. Plopp macht es. Die Fahnen an den Schloten des Kraftwerks werden wegen des Hochdrucks nach Westen geweht. Sie sind schwarz, denn die Sonne ist noch irgendwo jenseits der Oder. Noch hängt ein kleiner Bauch der Erde zwischen der Sonne und den Schornsteinen. Hu, wie eine Speichelfahne läuft der Qualm von den Kronen weg. Wie komme ich auf dieses Bild? Ja! Eine Handbreit rechts, die Unregelmäßigkeit. Offensichtlich in einem Luftloch senkte sich der Rauch, die Fahne hat da eine Delle und die sieht aus, wie der grinsende Mund des neuen TUI-Signet. Aber ein Lächeln. Was für ein Tag.  

2. November 2001

Die S-Bahn ist mir zur Gewohnheit geworden. Und zu der mit dem Fahrrad hin. Emporgestiegen, auf den Bahnsteig. Dann über der Stadt. Ein Winterweißnichtwashimmel! Sonne von waagerecht. Bronze, silbern, golden. In keiner Schatzkammer liegt eine größere Pracht. Und wenn ich durch die Häuser schaute, selbst die schattigste Mietskaserne schienen zu glänzen, längs der Straßenschluchten, hatte ich für mehrere kurze Momente einen Horizont, fern wie sonst am Meer. Das Licht hatte das gleiche Spektrum an Farben wie das Laub, das noch an den Bäumen hängt. Der Morgen hatte etwas von einem Sonntag. Obgleich Berufsverkehr, wie jeden Tag, war es doch eine Spur ruhiger als sonst, beinahe feierlich war die Stimmung. Und von Nordosten fielen lautstark die Krähen ein. Der ganze Stadthimmel war übersäht mit diesen so sozialen Geschöpfen, die gemeinsam furchteinflößend stark sind, deren Gemeinsamsein jeden hier unten vereinzelt erscheinen lässt. Sie bringen geballt die Kunde vom Winter.


Ohne Datum

Auch heute ließ ich meinen Blick über die "Seelen" jener wandern, die allmorgendlich irgendwie, irgendwodurch gesteuert mit der S-Bahn quer durch Berlin reisen. Die Gesichter sind schon das Interessanteste, dennoch bleibt mein Blick immer wieder an den Schlagzeilen hängen, die sich die Leute vor die Nase halten. "Super bingo... Drei Musiker in Berlin-Jet verbrannt!" Heute ist auf der ersten Seite der "Berliner Zeitung" ein Bild in schönen Farben, Brauntöne, vielleicht eine Berglandschaft. Ein Mann mit Bart und Turban hält irgendetwas hoch, im Vergleich zu dem Schwarz-weiß-rot (Kaiserfarben) der anderen Zeitungen war das irgendwie wohltuend und mein Blick blieb vor der Brust jener Frau haften, die mit dem Rücken zu mir, in dem Abteil schräg vor meinem saß. Sie, das hatte ich aber doch registriert, saß im braunen Rock begen Mantel, und ihre weinroten Stiefel endeten eine handbreit unter dem Knie. So eine Sekretärinhausfrau. Also das Bild. Vielleicht drei Meter von mir entfernt. Ich kneistere mit den Augen, um vielleicht doch irgendwelche Inhalte auszumachen, aber unbekümmert und nur mittel konzentriert, wie das eben so zugeht, lassen sich meine Sinne doch durch etwas anderes ablenken, nur kurz, eine Einfahrt in den Bahnhof, ein uninteressanter Fahrgastwechsel, und bald schaue ich wieder auf das Bild. Ist das vielleicht Osama bin Laden? Vielleicht hat er sich mit einem neuen Video gemeldet, um seine verbliebenen Gläubigen zum totalen Krieg aufzurufen. Hohe Stiefel können reizvoll sein, Beine verlängern und einladen, am Reißverschluß zu spielen. Es hängt vom Kontext ab. Wie schnell wird man zur alten Frau. Dabei zählt die Dame nur ein paar Lenzen mehr als ich. Ihre Reißverschlüsse leuchten silbern von den Waden. Sicher wären sie an den Innenseiten praktischer. Offensichtlich sollen sie, wie sie da blinken, Signale aussenden. Waren die Stiefel nicht weinrot? Schwarz sind sie oder antraziet. Die Frau schlägt nach dem Lesen der ersten Seite die Zeitung auf. Es ist eine andere! Auch wenn ich mich jetzt, in verwunderter Erinnerung einiger Details erinnere; daß die Stiefel rot waren, der Mantel bege, wusste nur mein Unterbewußtes. An den Stiefeln und nur zufällig habe ich erkannt, daß es sich um einen andern Menschen handelt. Als hätte sich die Frau in einem getrübten Moment aufgelöst und sich eine andere am gleichen Ort materialisiert. Oder die Frau hätte eine andere Gestalt angenommen, das wäre ja noch schön! Vielleicht verlaufen die Leben beider nach einem koordinierten Plan, und alles ist Absicht. Eher wahrscheinlich ist, dass es völlig einerlei, beliebig und gleichgültig ist, wer dort sitzt. Dem Anschein nach sind ebenso uniform wie die Lektüre, diejenigen, die sie halten.

Es riecht nach verschiedenen Feuchtigkeitscremes aber auch nach anderem. Viel hat sich nicht geändert seit ich das letzte Mal S-Bahn gefahren bin, früh morgens, Gesichter im Schein der Leuchtstoffröhren, zu deren Licht sich von Station zu Station das des Tages mischt, eines grauen, nicht eines golden, wie im Oktober denkbar. Noch sind die Gesichter blau, die meisten glänzen, da sie zu Frauen gehören, die sich pflegen. Es ist ihre Zeit. Die Männer stehen schon auf dem Baugerüst oder sind im BMW unterwegs zu ihren Ledersessel. Nur vereinzelt finden sich Leerstellen, graue faltige Wangen, durch die zu dieser Tageszeit noch kein Blut fließt.