Aus
dem SBahntagebuch gewidmet allen Mitfahrern
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3.
November 2004 22.
Oktober 2004 1.
Oktober 2004 16.
Juli 2004 24.
Juni 2004 14.
Mai 2004 - Man weiß nicht, was man denken soll 1.
April 2004 Sommer
2003 |
Das kann man unverhohlen
Schicksal nennen, was mir allmorgendlich widerfährt. Auch dieses
Schicksal ist zu einem Teil selbstbestimmt, denn ich hätte anstatt
mit der S-Bahn, ebensogut auch mit dem Automobil fahren können.
Was dann geschieht, wenn sich die Türen öffnen und dann die
Fahrt beginnt, liegt nicht in meiner Hand. Ein Platz wird frei und es
ergibt sich eine Viererkonstellation die eine Folge von mehr als nur
vier Ursachen ist. Wer hat wann auf meinem Platz gesessen? Wäre
Gesundbrunnen nicht der eine ausgestiegen und hätte somit nicht
seinen Platz jener Person geräumt, die gerade Greifswalder Straße
in die Straßenbahn wechselt, ..., hätte ich einen Moment
gezögert und der ältere Herr wäre vor mir in den Waggon
gelangt...? |
28.
Januar 2003 Über den Himmel schreiben. Immer über den Himmel. Dabei bin ich heute S-Bahn gefahren, könnte darüber berichten. Aber auch über der S-Bahn war ein Himmel. Selbst nachts ist Himmel über allem. Und Himmel ist nicht nur Sonnenschein und Sternenpracht. Auch der Himmel, der gar keiner ist, ist Himmel, genau dieser, der sich grau und homogen zurückhält, und gerade über uns liegt, unauffällig und uns klein macht, indem er uns subtil aufs Haupt drückt. Jegliche Verbindung zum Kosmos haben wir verloren. Unter diesem Himmel erlebst du Provinz, hast keine Ahnung vom globalen, universellen. Über den kellerfeuchten Bürgersteig schiebe ich meine Schuhe. Schaue auf den Punkt, der sich einen Meter vor mir durch die Straße schiebt, vermutlich, weil er doch ein wenig glänzt, wegen der Feuchte. Hundekacke, Zigarettenkippe. Oh, Himmel. Und links eine Wand und rechts eine Wand und ich kann in der Mitte hindurchlaufen. Ungezwungen aber natürlich nur bis zur nächsten Kreuzung, denn dort mündet die Straße in einer anderen. Ich kann mich dann entscheiden, ob ich links oder rechts herumgehe. Ich habe aber auch schon ein Luftbild von Oberschöneweide gesehen, ich weiß was hinter den Mauern ist. Da sind andere Mauern, Häuser, Industrieanlagen, wieder Straßen, sieht hübsch aus, von oben, bei Sonnenlicht. Wirklich! Oder denkst du etwa hinter den hohen Mauern würden Riesenwesen lauern, die hinüberschauen, auf uns herab, so wie Clara in ihre Puppenstube schaut und Anton auf den Parcour an Autos und Figuren, die er ordnet, in die er Leben bringt? Ich müßte ja nur mal den Kopf heben und schauen ob da eine Riesenhand hinter den Schornsteinen hervor kommt. Aber das ist nicht vorgesehen. Und wozu auch? Ich kann ja sowieso nicht über die Mauer springen, ich muß ja da lang, da ist ja am Ende der Straße mein Arbeitsplatz. 13. Januar 2003 Schau in die Gesichter. Tief hinein. Du hältst Dich an das deine und läßt dich auch schon mal von krummen Gleisen sechzig Grad drehen. Du siehst im Schwenk nur müde, wenn nicht gar geschlossene Augen. Wen soll ich anrufen, um Gnade anflehen? Gott und Gewerkschaft, was laßt ihr zu. Warum befehlt ihr diese Menschen an die Werkbank, da sie doch schlafen wollen? Gut, die meisten schlafen ja, hier fällt sogar das Kinn auf die Schulter. Aber gleich strafft ein Zucken den müden Körper, der scheinbar geführt wird auf einem schmalen Grad zwischen Wachsein und Dämmern. Es schaut aus, als wolle sich dieser Mensch selbst quälen, dressieren und züchtigen. Und alle anderen sind nicht besser. Die daneben hat sich für Augen offen entschieden. Doch sie sind so schmal mit dünnem harten Rand. Sie sehen böse aus, dabei müssen sie es nicht einmal sein. Ich fange an ganz tief zu brummen. Erst unhörbar, dann kaum hörbar. Als spielte ich Didgeridoo, blase und atme ich gleichzeitig. So entsteht ein schwellender aber nicht abbrechender Ton. Die mir zunächst sitzen, blicken sich leicht nervös, aber unbewußt einige Male um. So wie Tiere auf der Weide, die auch nicht den Kopf drehen weil..., sondern einfach nur so, instinktiv, eben unterbewußt. Dann entspannen sich die Nahen, aber auch die anderen im Abteil sichtbar. Die noch wachen lehnen sich auf ihren Unterarm. Die schon entrückten, lassen sich auf die Schulter des Nebenmannes sinken. Woher wissen sie, daß da jemand sitzt und wie? Als hätten sie sich die Schulter vorher schon ausgesucht, als sie noch gar nicht wußten wie sie heute schlafen würden. Wir sind ganz schön aus Gummi, Puppen, mit steifen Gliedern aber rundum beweglichen Gelenken, sobald wir vollkommen entspannt sind. Manche Fahrgäste haben groteske Haltungen angenommen. Ich brumme und würd' was drum geben nichts anderes zu tun. Ich brumm' schon eine Ewigkeit! Irgendwann muß man ja auch mal an Nahrungsaufnahme denken, an Reproduktion überhaupt. Die Menschheit würde ja nicht weiter kommen, hörte ich nicht auf zu brummen. Und ich glaube ich bekomme von der für mich ungewohnten Art zu atmen irgendwann mal Kopfschmerzen. Ich schnappe nach Luft. Rasch kommen die meisten zu sich. Und interessant, die Menschen, die es nicht gewohnt sind, sich anzulehnen reagieren ganz verschieden. Einige schrecken scheinbar empört auf, nach dem Motto, das kann doch nicht sein, andere kosten jede Hundertstel Sekunde aus bevor sie dann verträumt und mit samtener Stimme um Entschuldigung bitten. Du, was soll ich sagen, in der Ewigkeit ist keine Zeit vergangen. (Oh man, das ist ein bedeutender Satz, der mir einiges über die Zeit und die Ewigkeit deutlich macht.) Aber die da wach wurden waren andere. Eben nach einer Ewigkeit Schlaf sind sie alle jünger erwacht. Die zuvor harten Augen flitzen herum und schienen sich bei allen nach dem Wohlergehen zu erkundigen. Oder sie, wie die anderen, schien über sich selbst verwundert. Aber wie sieht man sich selbst erstaunt in die Augen? Höchstens so nah an der Scheibe, da bekommt man ein zweites Gesicht. Stell dir vor, das eine holt eine Flasche Wein und das andere betrachtet sich still in der Abwesenheit des anderen. |
11. Januar 2003 |
Schon
ist Januar, das Jahr ist neu, doch die Spuren des Alten sind im schmutzigen
Schnee gegenwärtig. Junge abgehackte Bäume liegen alt und unansehnlich
auf den Straßen. Die Schönsten hatte man vor einem Monat aus
dem Wald geholt. Weihnachten ist vorüber. Ich habe mich mal wieder
mit Maria abgegeben, genau wie vor einem Jahr. Im Jahresverlauf habe ich
sie hier und dort gesehen, mich aber nicht weiter für sie interessiert. Alle Welt himmelt sie an. Warum nur? Maria ist höchstens halb so alt wie ich, doch ist sie eine Frau. Der Inbegriff einer Frau! Ich habe sie nur schön gesehen. In ihrem Gesicht ist alles wovon ein Mann träumt. Mädchenhaft zart und mütterlich behütend sieht sie am liebsten auf einen herab, als wolle sie einen an ihren Schoß drücken. Fängt sie dich mit ihrem Blick, so ist es entrückend. Oft haben wir zehn Minuten uns einfach in die Augen geschaut. Ich hatte dann immer den Eindruck, als wolle sie irgend etwas in mir ergründen. Ihr Blick kann so bedeutungsvoll sein. Oder erwartungsvoll. Manchmal fühle ich mich von diesem Blick derart unter Druck gesetzt, daß ich mich nackt fühle. Schamhaft sitze ich dann vor ihr, weiche ihren Augen und blicke auf ihr Kleid, den kleinen runden Busen und versuche unter ihrem langen Kleid die Form ihrer Schenkel und Waden zu ergründen. Fast könnte ich mit beiden Händen ihre Taille umfassen. Ihre Hände sind zart, fast durchscheinend. Und obwohl sie das ganze Gegenteil einer Domina ist, wirfst du dich vor ihr auf die Knie, erniedrigst dich so tief es geht und drückst wollüstig dein Gesicht in ihren Faltenwurf. Falls du überhaupt an sie heran kommst. Eine so gut gewachsene Frau wie Maria hast du noch nicht gesehen. Jede Frau träumt von einer solchen Figur. Zart und in der Schwebe zwischen Mädchen und Frau. Ihre Mutterschaft sieht man ihr nicht an. Ja, sie hat ein Kind, aber der Vater spielt keine Rolle. Wenn ich es zulasse, dann läßt sie sich ganz auf mich ein. Ich glaube, daß sie es mit allen so macht. Warum ist man dieser Frau so hilflos ausgeliefert? Vielleicht weil sie einem sowohl das Gefühl gibt, immer für einen da zu sein und gleichzeitig weißt du, sie ist unerreichbar. Abgesehen von meinen Träumen ist noch nichts mit ihr wirklich passiert. Ich bin ich auch viel zu stolz um mich auf eine einzulassen, die so viele Verehrer hat. Und ich weiß warum sie so viele verehren. Weil die Traumfrau, die jeder Mann im Herzen trägt durch sie Gestalt annahm. Im Grunde ist sie eine unschuldige Hure, hat es mit keinem Mann und jedem getrieben. Nichts ist für einen Mann demütigender als das Weib, das sich auf einen einläßt, einen Hoffnungen macht, um am Ende unter dem Deckmantel der Keuschheit die Erlösung vorzuenthalten. Und gerade deshalb diente sie allen Heiligen und nicht nur denen zum Scheine als Wichsvorlage. Maria war schon im Mittelalter Pin-up-girl. Das ausgestellte Ideal unter Hochglanz, lautstark schweigend. Unser Traum doch ohne Blut. |
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Die S-Bahn war nicht so spannend. Donner über dem Zentrum der Stadt, am frühen Morgen. Ein Licht, wie man es in jeder Jahreszeit sehen kann, eines, das einen fröstelnd macht. Aber es ist warm. Durch einen Sommerregen bin ich gefahren. Nasse Hosen. Und die mit der ich immer fahre, saß mir gegenüber. Das erste Mal von nahem gesehen. Ernster Lehrling im letzten Jahr. Immer in schwarz, so auch ihr Haar und immer lesend, nur selten ein nervöser Blick. Heute dachte ich, entweder die nimmt Drogen oder wurde von ihren Eltern mißhandelt. Nun könnte ich sagen, daß sie sich heute ganz dicht hinter mich gestellt hat, wie es gar nicht ihrer scheuen Art entspricht, sie hat sich dann auch mir gegenüber hingesetzt, ja, aber ich glaube sie hat mich gar nicht gesehen und außerdem 19 und verhuschelt, nein wirklich. |
November
2002 Gestern noch klirrende Luft, heute ist sie schwammig. Ein Brei, halbdurchsichtig in der Dämmerung. Der November macht seinem Ruf wieder alle Ehre. Und ich stehe angefeuchtet auf dem Bahnsteig. Ich komme nicht einmal auf die Idee, nach dem Fernsehturm zu suchen. Unsere DNS stimmt zu 98 Prozent mit der der Affen überein. Und zu welchen Teilen mit der einer Schnecke? Alle Sinne verkriechen sich in mir. Ich bin ein Dings, das da steht und von der Bahn in Richtung Zeuten abgeholt werden soll. Plötzlich nehme ich doch etwas wahr, da es überrascht und völlig unpassend zu sein scheint. Ruggedigu, ruggedigu! Hinter mir, über mir. Flach auf dem Träger unter dem Dach, selbstverständlich grau wie ein Stein, sitzt, vermutlich mit angewinkelten Knien, die Taube. Ihr Ruggedigu klang anders als eine bloße Wortmeldung. Das klang nach Frühling und Lust. Tauben, so fiel mir ein, feiern das ganze Jahr über Geburtstag. Genau wie der Mensch. Da muß doch was sein, das dazu führt. Ein permanenter Trieb, fortwährende Lustbarkeit. Ich senkte meinen Blick auf meine Artgenossen. Wie sie da alle kamen, aus dem Loch, an dessen Rand die Treppe von der Straße her mündet. Vermummelt, verschlafen aber Mensch. Und es kamen immer genug Frauen, so daß ich nach den Männern nicht schauen mochte. Eine nach der anderen: Die rothaarige Mitvierzigerin. Ein kurzer, energiegeladener Schritt. Ich konnte mir richtig gut ihre festen Oberschenkel vorstellen. Dann kam eine junge Lange. Ihre Knochen müssen noch ganz biegsam sein. Wieder kam eine Ältere, mit einem Blick voller Sehnsucht. Dann eine Oberschülerin mit einem Blich voller Neugier. Eine kühle Frau wandelte die Treppe empor, deren Stolz zu brechen wäre. Dann kam ein gewaltiges Herz, ein Wesen, das mit gewaltiger Brust Wärme ausstrahlte. Ich drehte mich wie ein Brummkreisel, um jeder nachzuschauen und jeder entgegenzusehen. Letztlich erwiderte auch eine Frau meinen Blick. Ich merkte es schon, obwohl meine Augen noch etwa in Hüfthöhe verharrten. Da ich ja kurzsichtig bin, beuge ich mich immer leicht nach vorn, um besser zu sehen. Auf fünf Schritt war die Frau mit dem karierten Rock, dessen Saum bei jedem Schritt eine Hand breit übers Knie schlug, herangekommen. Ich spürte wie sie mich ansah. Physisch spürte ich es, wie einen warmen Duschstrahl auf der Wange. Wie macht das der Täuberich?', dachte ich bei mir. Kleidung macht keusch! Fast ist sie auf gleicher Höhe! Sie spricht mich an, nein schnalzt mit der Zunge, nein. Es ist so ein "Tztzt!" ein empörtes, eines, das all meinen Igel- und Schneckengenen zur Durchsetzung verhilft. Fehlte nur noch, daß jemand auf mich tritt. |
29. Januar 2002 |
Berufsverkehr im Winter. Die Zäpfchen schlafen noch, die Stäbchen beschränken sich darauf, das Wesentlichste zu sehen. Mechanisch zum S-Bahnhof gelangt, noch keine Gedanken darauf verschwendet, ob der Tag freundlich sei oder nicht. Konturen sehen, die Uhren sind beleuchtet. Der Minutenzeiger droht. Er treibt mich in den Tag Ruck um Ruck. Und Schatten bewegen sich. Bewegen sich vor mir auf und ab. Eine Zeitungsseite weht eben zufällig über die Bahnsteigkante. Hörte ich ein Rascheln? Harte Absätze pochen auf hartem Stein. Nasenputzen hinter mir. Das Auge gewöhnt sich und sieht helle Flecken sich bewegen. Wesen in grauen Mänteln zeigen Gesicht. Ob freiwillig oder nicht. Das natürlich Licht im Waggon klärt nichts. Die Schatten stehen dicht gedrängt. Im Neonlicht dehnt sich das Spektrum von indifferenten Schwarz bis zum Braun. Die hellen Flecke lassen Gesichter ahnen zwischen Mützen und Schals. Diese haben Tarnfarbe angenommen. Sie heben sich kaum von dem Material der Wände ab, das selbst Graffitiversuche unsichtbar macht. Blasses Gemuschel mit violetten Stich. Nur Gehüstel in verschiedenen Tonlagen ist Indiz von Leben. Was für ein Leben? Was wäre, wenn die Türen aufsprängen und eine karibische Rhythmusgruppe einzöge. Nein, es ertönt eine therapeutische Stimme, die die nächste Station bekannt gibt. Und irgendwann wirst Du gerufen, Bahnhof-Schöneweide. Hinter dir schließen sich die Türen, doch die Schatten trägst du mit. Bist selber einer. Und sehnst stumm deinen Frühling herbei. |
Heute ein Waggon verrutscht, habe im vorvorletzten gesessen und mir gegenüber drei jeweils etwa drei Meter große Jungen zusammen dreihundert Kilo schwer. Nicht so schlimm, wenn nicht dieses merkwürdige Selbstbewusstsein auffällig wäre. Der eine hielt es in den Händen: In seiner Mütze war "Number one" eingestickt. Des anderen Anorak war mit einer Applikation versehen, auf der irgendwas von "Super" und "King" geschrieben stand. Äußerlichkeiten prägen diesen Anspruch, also prägt dieser Anspruch Äußerlichkeiten. Oder Ideologie? Man darf nichts anderes als der Beste sein. Aber wer ist so cool, um nicht nach innen zu schauen? Und wer stößt in sich nicht auf Unzulänglichkeiten. All die unerfüllten und unerfüllbaren Wünsche. Warum redet dieser Mensch so laut? Aus Angst und Gewohnheit nicht gehört zu werden oder um zu vermeiden selbst etwas hören zu müssen. Es könnte ja ein Zweifel laut werden, es könnte irgendein Wort die wilde Fahrt bremsen, mit der man durchs Leben saust. Sicherlich habe ich total Recht. Gewiß hat eine Sicht auch etwas mit dem Betrachter zu tun. Aber ich habe kein Problem damit, nur 1.50 groß zu sein, selbstverständlich anderen den Vortritt zu lassen und nur dann etwas zu sagen, wenn ich gefragt werde. | 21. Dezember 2001 |
14. Dezember 2001 |
Fehlte nur noch der Schnee für eine Winterromanze, aber dann wäre ich nicht mit dem Fahrrad gefahren, dann hätten nicht so viele Liter kristallisierende Luft mir den Mief aus der Lunge gekratzt. Mit dem Rad aber nur bis zum Bahnhof. Auf Schienen unterwegs zu sein, Bahnschwellen diktieren den Rhythmus, und über Brücken zu fahren, gebaut wie der Eifelturm - das holt einen immer zurück in vergangene Epochen, wenigstens ins letzte, wenn nicht gar ins vorletzte Jahrhundert, zumindest in die Zeit, in der die große Mobilität ausbrach, das Verkehrswesen der Schrittmacher der Gesellschaft war. Vergessen wir nicht, mit der Eisenbahn fuhr Deutschland zur Weltmacht auf... Gedanken eines ganz normalen Morgens in dem sich der Werktätige in Personenloren zusammendrängt und noch dazu wohlgelaunt, weil das anhaltend schöne Wetter ihm eine Kulisse aus eben beschriebener Ewigkeit und Bedeutung bietet. Oh Wirtschaftswunder und Geschichte. Berlin-Schöneweide. Morgengrauen ohne grau und anstelle eines Hahnes erklingt eitel und extralang der Pfiff einer Dampflok. Monströs und natürlich dampfschnaubend kam sie daher, fuhr über Schienenfelder durch die Industrielandschaft aus hart gebranntem Klinker. Doch hier findet nichts mehr statt. Die Lok ist ein Relikt aus jener Zeit in der es hier noch nach Ruß und Öl roch und Fünfzigtausend dem Ruf der Werkssirenen folgten. Zartes Eis auf der Spree. Kein Dampfer auf dem Wasser. Alles friedlich die gigantischen Werkhallen dienen nur noch als Kulisse, es ist doch alles nicht wirklich, nicht wirklich wie gedacht. Es ist nicht alles eigentlich falsch, nur anachronistisch. Und vor dem ehemals größten Kabelwerk sitzt vor acht, bei acht Grad Kälte einer der übrig blieb, auf einer kalten Backsteinmauer und trinkt Klaren. |
? | Mit dem Auto zur Arbeit zu fahren ist auch mal wieder schön. Wenn der Himmel langsam silbern und bronze anläuft und Van Morrison die Flamingos fliegen lässt. Ohne Tiefe ist der Himmel. Er wirkt wie eine Kulisse. Ich nehme einen Stein und werfe ihn dagegen. Plopp macht es. Die Fahnen an den Schloten des Kraftwerks werden wegen des Hochdrucks nach Westen geweht. Sie sind schwarz, denn die Sonne ist noch irgendwo jenseits der Oder. Noch hängt ein kleiner Bauch der Erde zwischen der Sonne und den Schornsteinen. Hu, wie eine Speichelfahne läuft der Qualm von den Kronen weg. Wie komme ich auf dieses Bild? Ja! Eine Handbreit rechts, die Unregelmäßigkeit. Offensichtlich in einem Luftloch senkte sich der Rauch, die Fahne hat da eine Delle und die sieht aus, wie der grinsende Mund des neuen TUI-Signet. Aber ein Lächeln. Was für ein Tag. |
2. November 2001 Die S-Bahn ist mir zur Gewohnheit geworden. Und zu der mit dem Fahrrad hin. Emporgestiegen, auf den Bahnsteig. Dann über der Stadt. Ein Winterweißnichtwashimmel! Sonne von waagerecht. Bronze, silbern, golden. In keiner Schatzkammer liegt eine größere Pracht. Und wenn ich durch die Häuser schaute, selbst die schattigste Mietskaserne schienen zu glänzen, längs der Straßenschluchten, hatte ich für mehrere kurze Momente einen Horizont, fern wie sonst am Meer. Das Licht hatte das gleiche Spektrum an Farben wie das Laub, das noch an den Bäumen hängt. Der Morgen hatte etwas von einem Sonntag. Obgleich Berufsverkehr, wie jeden Tag, war es doch eine Spur ruhiger als sonst, beinahe feierlich war die Stimmung. Und von Nordosten fielen lautstark die Krähen ein. Der ganze Stadthimmel war übersäht mit diesen so sozialen Geschöpfen, die gemeinsam furchteinflößend stark sind, deren Gemeinsamsein jeden hier unten vereinzelt erscheinen lässt. Sie bringen geballt die Kunde vom Winter. |
Auch heute ließ ich meinen Blick über die "Seelen" jener wandern, die allmorgendlich irgendwie, irgendwodurch gesteuert mit der S-Bahn quer durch Berlin reisen. Die Gesichter sind schon das Interessanteste, dennoch bleibt mein Blick immer wieder an den Schlagzeilen hängen, die sich die Leute vor die Nase halten. "Super bingo... Drei Musiker in Berlin-Jet verbrannt!" Heute ist auf der ersten Seite der "Berliner Zeitung" ein Bild in schönen Farben, Brauntöne, vielleicht eine Berglandschaft. Ein Mann mit Bart und Turban hält irgendetwas hoch, im Vergleich zu dem Schwarz-weiß-rot (Kaiserfarben) der anderen Zeitungen war das irgendwie wohltuend und mein Blick blieb vor der Brust jener Frau haften, die mit dem Rücken zu mir, in dem Abteil schräg vor meinem saß. Sie, das hatte ich aber doch registriert, saß im braunen Rock begen Mantel, und ihre weinroten Stiefel endeten eine handbreit unter dem Knie. So eine Sekretärinhausfrau. Also das Bild. Vielleicht drei Meter von mir entfernt. Ich kneistere mit den Augen, um vielleicht doch irgendwelche Inhalte auszumachen, aber unbekümmert und nur mittel konzentriert, wie das eben so zugeht, lassen sich meine Sinne doch durch etwas anderes ablenken, nur kurz, eine Einfahrt in den Bahnhof, ein uninteressanter Fahrgastwechsel, und bald schaue ich wieder auf das Bild. Ist das vielleicht Osama bin Laden? Vielleicht hat er sich mit einem neuen Video gemeldet, um seine verbliebenen Gläubigen zum totalen Krieg aufzurufen. Hohe Stiefel können reizvoll sein, Beine verlängern und einladen, am Reißverschluß zu spielen. Es hängt vom Kontext ab. Wie schnell wird man zur alten Frau. Dabei zählt die Dame nur ein paar Lenzen mehr als ich. Ihre Reißverschlüsse leuchten silbern von den Waden. Sicher wären sie an den Innenseiten praktischer. Offensichtlich sollen sie, wie sie da blinken, Signale aussenden. Waren die Stiefel nicht weinrot? Schwarz sind sie oder antraziet. Die Frau schlägt nach dem Lesen der ersten Seite die Zeitung auf. Es ist eine andere! Auch wenn ich mich jetzt, in verwunderter Erinnerung einiger Details erinnere; daß die Stiefel rot waren, der Mantel bege, wusste nur mein Unterbewußtes. An den Stiefeln und nur zufällig habe ich erkannt, daß es sich um einen andern Menschen handelt. Als hätte sich die Frau in einem getrübten Moment aufgelöst und sich eine andere am gleichen Ort materialisiert. Oder die Frau hätte eine andere Gestalt angenommen, das wäre ja noch schön! Vielleicht verlaufen die Leben beider nach einem koordinierten Plan, und alles ist Absicht. Eher wahrscheinlich ist, dass es völlig einerlei, beliebig und gleichgültig ist, wer dort sitzt. Dem Anschein nach sind ebenso uniform wie die Lektüre, diejenigen, die sie halten. |
Es riecht nach verschiedenen Feuchtigkeitscremes aber auch nach anderem. Viel hat sich nicht geändert seit ich das letzte Mal S-Bahn gefahren bin, früh morgens, Gesichter im Schein der Leuchtstoffröhren, zu deren Licht sich von Station zu Station das des Tages mischt, eines grauen, nicht eines golden, wie im Oktober denkbar. Noch sind die Gesichter blau, die meisten glänzen, da sie zu Frauen gehören, die sich pflegen. Es ist ihre Zeit. Die Männer stehen schon auf dem Baugerüst oder sind im BMW unterwegs zu ihren Ledersessel. Nur vereinzelt finden sich Leerstellen, graue faltige Wangen, durch die zu dieser Tageszeit noch kein Blut fließt. |
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