Tourenbericht 2010

Packeis voran - vom 69. zum 78. Breitengrad

von Jan

Lena hat's geschafft – endlich wurde der europäische Schlagerpokal wieder nach Deutschland geholt. Allerdings hat man es noch immer nicht geschafft, das Loch in der Erde zu stopfen, aus dem täglich zwischen 1600 und 3400 Tonnen Öl in den Golf von Mexiko fließen.
Und ich hau ab. Natürlich nicht, ohne zuvor gefragt zu haben. Zwei Jahre freue ich mich schon. Bis jetzt wagte ich nicht daran zu glauben; doch nun gibt es nur noch mich und meinen Seesack. Ich muss den richtigen Flugsteig finden, bei der Sicherheitskontrolle nur meine Schuhe ausziehen, keinen Kinderwagen schieben, keinen permanenten Interessenausgleich mit der Freundin und unseren drei Kindern finden... Nur an mich denken und an mein Ziel.
Oslo – schon erscheint alles in einem anderen Licht. Flach kreist die Sonne um den leicht bewölkten Himmel. In Berlin, vor einer guten Stunde, schien sie nicht. Ich schaue übers Rollfeld weit ins grüne, hügelige Land. Dieser Ausblick tut der Seele gut. In der Abfertigungshalle begegnet mir schon eine andere Lebensart. Andere Menschen, abgesehen von dem Anteil an Weltbürgern, die an allen Knotenpunkten des Planeten sich herumtummeln.
Scheinen die blonden Bennys und Agnetas nur so ausgeglichen oder sind sie es wirklich? Nun, wir sind in Norwegen, das sich schon vor 200 Jahren von Dänemark und vor 100 von Schweden emanzipiert hat - vielleicht heißen hier alle Ole oder so? Norwegen hat neben der skandinavischen Gelassenheit noch Öl und von dessen Ertrag auch in die Zufriedenheit der Leute investiert wird. Bei längerem Hinsehen stelle ich fest, dass zumindest ein Teil nur scheinblond ist. Das Dunkel an den Haarwurzeln einiger ist ein Hinweis auf die lange Küste des Landes. Denn an den Küsten grenzt ein Land an jedes andere. Wenigstens an jedes das eine Küste zum Weltmeer hat.

31.5. 1400, Kurs: div., FdW: 5,2 kn, Wind: -, Wetter: 8/8 trocken, Luftdruck: 1008, Motor, legen in Tromsø ab, Ziel: Hausnes
1520, fest an Steg in Hausnes, Schnee, Graupel, Regen
01.06. 0945, Kurs: div., FdW: 3,2 kn, Wind: W 15 kn, Wetter: 7/8 mix, Luftdruck: 1016, Groß, Besan, Leinen los, Kurs: Thorsvag
1400, fest an Steg Torsvag, Mix aus Regen, Schnee, Sonne, letzten 8 NM Motor
2020, legen ab mit Ziel Bonoja
2300, Kurs: 350°, FdW: 4,4 kn, Wind: SW4, Wetter: 4/8, Luftdruck: 1008, Blister gesetzt, Groß bergen, Moto

Wann, wenn nicht jetzt, wäre Gelegenheit, meine Gedanken fortzuführen? 36 Stunden an Bord der Pagan, 24 Stunden auf Fahrt, drohend, an Eindrücken überzulaufen – läuft jetzt das Schiff die letzten Meilen durch die Scheren.
Die Nachtigall sang, das Grün wurde undurchdringlich, üppig, wollüstig gebar sich die Natur, als ich Berlin verließ. Die Nachtigall sang am Tag und im Dunkel der Nacht.
Nun 70° Nord kreischt die Möwe im ewigen Licht. Ein Licht – nicht von so plumper Direktheit wie das Licht, das mich sonst bescheint. Dieses Licht hier wird ganz verhalten gedimmt, beleuchtet die Berge ringsum von allen Seiten und lässt im Gegenzug die Schatten kreisen. Ziehende Wolken variieren das unendliche Spektrum des Grau. Vom Bleigrau der See, dem stumpfen Anthrazit des Gerölles an den Hängen über das Grau mit grünem Stich überall dort, wo es Vegetation gibt, silbergrau das Meer, wo es von der Sonne beschienen wird und Chrom dort, wo die Wellen dieses Licht brechen.
In der Tat bin ich geflohen - in dieses Erleben. Segeln wird gedacht als Erleben der Natur, als Naturerlebnis. Man gibt sich den Elementen hin, geht oder fährt an seine Grenzen. Doch nicht allein und für sich. Was für ein Abenteuer ist es, sich auf andere Menschen einzulassen.
Ich spüre die Scheu, gerade hierzu jede Beobachtung, jeden Verdacht, gar jede Empfindung zu beschreiben.
Nur soviel vorerst: Im Anflug auf Tromsø beschaute ich schon neugierig jeden Mitflieger, taxierte jeden von Rucksack bis Schuhwerk. Und wirklich, von den 150 Passagieren kamen zweieinhalb in Frage, mit mir auf die gleiche Reise zu gehen. Der Halbe passte von dem ausgestrahlten Anspruch, etwas ganz Besonderes erleben zu wollen, war aber eigentlich zu dick und orientierte sich dann in Reiseunterlagen, die zu der Paganexpedition nicht passten.
Dann stand ein bescheidenes Mädchen am Gepäckband, eines mit Bordschuhen, jedoch mit merkwürdigem Rohr im Handgepäck. Vielleicht enthielt es eingerollte Seekarten? Ich konnte mir eine Reise mit dieser Person gut vorstellen, also sprach ich sie an - schließlich wäre es ja auch vernünftig, in einem gemeinsamen Taxi zum Hafen zu kommen. Fehlanzeige, sie verneinte schon meine etwas plump gestellte Frage: "You are e Sailerin?"
Ich weiß nicht, was sie von dem verstand, was ich ihr noch so alles zu meiner Rechtfertigung erzählte. Verstand sie überhaupt das nicht sehr englische Wort Spitzbergen? Immerhin, sie blieb freundlich. Ich aber folgte dem letzten Verdächtigen, der aber, ganz auf sein Gepäck fixiert, mir auszuweichen schien. Ein Wanderfreund vielleicht, eher grün als blau. Und dann zog er ein Paket vom Band - weder Wander- geschweige denn Seesack. Es handelte sich um einen sorgsam mit robuster Folie eingeschlagenen Quader. Ein technisches Gerät? Egal, als der Mann zwischen Taxistand und Bushaltestelle wieder vor mir stand, musste ich meine Frage noch einmal ausprobieren: "You are e Sailer?"
"Yes.", und schon war alles klar. Dass es sich nämlich um Kai aus Wuppertal handelte, der schon mit Reinhard durch polare Gewässer gesegelt war und sich für diesen Törn ganz kurzfristig entschieden hatte. Vor einer Woche wusste er noch nicht, dass wir uns jetzt das Taxi zum Hafen teilen würden.
Und mit einer weiteren Person. Einer Erscheinung. Ich weiß gar nicht, ob ich näher darauf eingehen soll. Sie schaute wohlwollend auf uns halbgewichtige Burschen herab. Sie war etwa so groß wie Kai und ich zusammen, dabei nicht einmal halb so alt wie ein einzelner von uns. Alles an ihr war rechteckig, das Gesicht ging ins Quadrat. Ich muss Kai, falls er überhaupt einen Blick für so etwas hat, fragen, ob ihm diese Frau eher herb oder sehr, sehr weiblich erschien. Eigentlich wollte ich auf diese Frau doch gar nicht näher eingehen, aber warum lenkt dieser Mensch, der so schon alle Blicke auf sich zog, auch noch mit der Geraderobe alle Aufmerksamkeit auf sich? Die Fee schwebte gewandet in einer exklusiven klassischen Tracht, mit atemberaubenden Chic und null Musikantenstadl durch das etwas fahle Hell der Nacht? Ein wenig Liv Ullmann aus einem Bergmannfilm auf zwei Meter hoch skaliert. Eine Schneekönigen, wenn diese eine gute wäre. Die vollkommene Frau, die gesteigerte Frau und am Ende doch gar keine?
Sie verließ das Taxi auf halber Strecke zum Hafen und beglich zwei Drittel der Rechnung…
Ab sofort gehe ich nicht wieder so ins Detail. Vielleicht vermochte ich es nur deshalb, weil die Episode abgeschlossen ist. Diese Frau hat sich mir nicht vertraut gemacht, ich mich ihr nicht, also kann ich lästern. Es war eine Erscheinung. Mit einem Hauch Geheimnis, das sich nicht auflösen wird, allenfalls Mysterium wird.
Jeder Moment der Gegenwart, gerade jetzt und hier, ist in seiner Intensität so stark, dass das Erlebte im Nachhinein verblasst, wenn man versucht es festzuhalten. Vielleicht lässt es sich deshalb nur beschreiben, wenn überhaupt.

2.6. 0500, Kurs: 350°, FdW: 3,8 kn, Wind: E6-7, Wetter: 0/8, Luftdruck 1016, Blister, Groß
0700, Kurs: 351°, FdW: 6,4 kn, Wind: E 18 kn, Wetter: 3/8, Luftdruck 1010, Vollzeug, Blister geborgen
3.6. 0400, Kurs: 360°, FdW: 4,7 kn, Wind: W 6 kn, Wetter: 8/8, Luftdruck: 1002, Groß, Genua, Motor
0800, Kurs: 270°, FdW: 3,9 kn, Wind: N 12 kn, Wetter: 8/8, Luftdruck: 1002, Groß, Genua, Stagfock, Nordwind, kreuzen auf

Vor 48 Stunden machten wir die Leinen in Torsvag los. An dieser Fischbude mit den fünf Häusern ringsum, nahmen wir das letzte Mal Festland unter die Füße. Letzter Gang auf eine feste Sanitäreinrichtung...
Seit 48 Stunden bestimmt der Wachwechsel das Zeitmaß. Sechs Stunden hat die Nacht, vier der Tag. Die Sonne rotiert mal reichlich, mal knapp eine Hand breit über dem Horizont. Ein leuchtender Zeiger und der Himmel das Ziffernblatt. Ein Uhr steht die Sonne Nord, dreizehn schlägt's Süd.
48 Stunden im Schlafsack oder Fließ. Eine warme Dusche könnte ich schon gebrauchen, eine kalte muss noch nicht sein.
48 Stunden nur Himmel und Meer. Mäßiger Wind, der die Segel gerade bläht, aber eine Dünung, die wahrscheinlich von der Hudsonbay herrollt. Die Pütz ist das Kuscheltier der halben Crew.
An der Pinne sitze ich mit zusammengekniffenen Augen, versuche, nicht immer in die Sonne zu schauen, zähle jede Welle und warte auf den Augenblick, an dem ich an gar nichts mehr denke - da schiebt sich ein Wal in das Tal zwischen zwei Wellen. Zwinkert mir zu und taucht wieder ab, bevor ich ein Drittel von ihm sehen konnte. Ich spinne, das glaubt mir keiner. Und da ich ganz unverstellt rede, wie's meine Art ist, zucken die Genossen mit den Schultern und teilen mir mit, dass sie auf der letzten Wache schon sechs von der Sorte gesehen hätten.
Ach so.
14 Dreizehenmöwen spielen mit uns. Reinhard meint, es seien die einjährigen, aus dem Gelege des letzten Jahres, also jene, die vor ihrer Vermählung erst einmal die Welt kennenlernen müssen. Diese 14 Dreizehenmöwen spielen immer mal wieder ihr Antennenspiel. Man muss wissen, dass die Spitze des Großmastes in jeder Welle zwei Meter hin und her schaukelt. Die Möwen spielen mit dem Windmesser und der Antenne Hasche. Am coolsten ist die, die mit ihrem Schnabel die Antenne zwickt.

04.06. 1340 Kurs: 300°, FdW: 5,3 kn, Wind: 26-28 kn, Wetter: 8/8 Luftdruck: 1006, Gr. II, kl. Try, Adios Bjornoje, Gehen nach Svalbard

4. Juni, 75° Nord - man schaue, was noch alles auf dieser Breite liegt. Und mit 4 Knoten geht es bei 4°C immer weiter nach Norden.
Vierter Juni Zehn, Clara, Töchterlein, du wirst heute zwanzig. So weit weg von dir war ich zu deinem Geburtstag noch nie. Du aber auch noch nie von mir. Du hast mich vor drei Wochen zum Opa gemacht. Nun habe ich alles erreicht. Nun kann ich mich am Glücke anderer freuen, an deinem, dem deines Mannes und an dem der kleinen Zora, die Glück hat mit ihren Eltern.
Die Vorpik gerät zum Würfelbecher. Ich starre starr durch die beschlagene Luke. In unregelmäßigen Abständen schlagen Brecher übers Deck. Es ist wie U-Boot fahren. Unvermittelt erhält der Rumpf eine solche Watschen, dass es den Bug um zwei Hand breit nach Lee versetzt. Beim ersten Knall dachte Uli, das könne nur Eis gewesen sein. Doch die Treffer wiederholen sich. Wasser kann sehr hart sein.
Nach Antritt der Wache - bei sieben Windstärken, der Wind reißt von den Wogen Fäden weg - heißt es: Segel bergen. Schnell werden die Finger in der kalten Nässe zu vorgebogenen Räucherwürstchen. Gefühllos fummeln sie an Schäkeln und Stagreitern. Mit jeder Welle geht es zwei Meter hoch, zwei Meter runter. Nervöses, nein, hektisches Segelflattern. Das zweite Reff ins Groß, die Winsch würgt Wasser aus dem Fall, Uli hängt sich noch mal mit seinen 90 Kilo an die Kurbel. Wenn nun eine Niete bricht, ein Block...
Selten sind mir so viele ernst gemeinte Worte mit auf die Reise gegeben worden. Bestimmt hörte ich von zehn Hand breit Wasser unterm Kiel. Und die flehenden Worte von Mutter, Frau und Kindern: "Pass auf, komm gesund wieder!", lösten am Ende bei mir morbide Gedanken aus. Das Risiko segelt immer mit. Erst recht im tödlich kalten Wasser des Nordmeers. An Fallen und Schoten sind Kräfte zu bändigen, wie man sie sonst nur unter der Motorhaube versteckt hält. Kräfte eben, die einen voran bringen. Aber wo lauert die größere Gefahr?

05.06. 1100, Kurs 360°, FdW: 3,4 kn, Wind: N 8 kn, Wetter: 8/8, Luftdruck: 1008, Motor

06.06. 0300
Gelegentlich fallen Eiskristalle vom Himmel, der sich längst nicht mehr als Uhr mit strahlendem Stundenzeiger zeigt. Viel eher segeln wir unter einer milchigen Käseglocke schon Tage hin und her. Das Schiff galoppiert, nein, geht Schritt, von Welle zu Welle, kaum 3,5 kn.
Es ist ruhig wie selten. Wenig Wind, wenig Fahrt, alles schläft. Totenstille, sieht man vom Schlagen der Falle und vom Glucksen des gebrochenen Wassers ab.
Da, ein Lachen! Ich horche auf. Wieder Stille, angespanntes Lauschen. Jetzt höre ich's, wie von Ferne. Ein andauernder Monolog. Wäre die Stimme etwas weniger verhallt, könnte ich jedes Wort verstehen. Irgendwo beim Bug musste es sein. Wieder das Lachen, diesmal ein Kichern beim Traveller ganz nahe vor mir. Kaum schaue ich hin, ist es verstummt. Das Gesäusel im Vorschiff setzt ungerührt fort. Manchmal scheint jemand Antwort zu geben, andererseits klingt es nicht nach einem Gespräch. Ich glaube, es wird eine Liste verlesen. Name für Name. Und hin und wieder ein Seufzer als Antwort. Wieder ein höhnisches Lachen dicht vor mir, dann ein Seufzer vom Schonermast. Ich bin nicht mehr allein. Meine fünf Weggefährten schlafen unter Deck, doch hier oben haben andere das Sagen übernommen.
Ich muss auf den Kurs achten. Immer nach Norden, 0°. Backbord gewahre ich am Horizont einen großen grauen Block. In vielleicht zehn Meilen Entfernung drängt er sich zwischen Himmel und Meer. Unsere Position: 75°49' N, 15°07' E. Zwei Tagesreisen nördlich liegt Spitzbergen, im Südosten irgendwo die Bäreninsel. Im Westen Grönland, doch weit über 300 Meilen entfernt.
Hier, backbord von mir, muss Thule liegen. Ich sehe die Berge im Dunst. Und da Thule kein Reich von dieser Welt ist, werden mich seine Bewohner auf ihre Art heimgesucht haben.
Irgend so ein Romantiker hat ein Dorf Thule genannt, das eigentlich Qaanaaq
(1) heißt. Denkt er - war es Rasmussen - indem er aus einem Mythos ein Dorf macht, den Mythos gebannt zu haben? Wollte er den Endpunkt setzen und der letzte Entdecker sein? Ein Dorf, dass ich nicht lache! Thule ist dort draußen und bleibt dort draußen. Ich verspreche euch, keinen Fuß darauf zu setzen und keine Fahne in seinen Boden zu rammen. Ich lass es euch, damit ihr ewig suchen könnt. Damit die Sehnsucht bleibt.

(1) Sicherlich liegt Qaanaaq irgendwo am Ende der Welt. Übrigens 70 Meilen nördlicher als mein augenblicklicher Standort. Und von Qaanaaq wäre beinahe das Ende der Welt gekommen, als dort 1969 ein B-52 der Thule Air Base mit vier Wasserstoffbomben abstürzte.

06.06. 2000, Kurs: 12°, FdW: 5 kn, Wind: NNW 15 kn, Wetter 8/8, Luftdruck: 1012, Groß, Genua, SVALBARD in Sicht!

Was suchen wir hier? Das Ultimative. Jeder von uns an Bord hat ganz ähnliche und ganz unterschiedliche Motive und Erwartungen. Ich wollte segeln, von einem Ufer zum anderen. Und sicherlich auch dahin, wo noch nicht jeder war. Und ich wollte weiter hinaus als ich je war. Und da bot sich Spitzbergen an. Suse ging es eher um Spitzbergen selbst, in Verbindung mit Segeln. Sie war wohl am wenigsten auf das vorbereitet, was uns erwartete. Bei Doris und Uli war vermutlich Spitzbergen irgendwann mal dran, eben nicht die Ägäis, schon das Besondere, auf das sie sich auch vorbereitet hatten. Kai erreichte kurzfristig eine Mail von Reinhard und er ergriff als Wiederholungstäter die Gelegenheit beim Schopfe. Ja, und Reinhard selbst - die Pagan ist sein Leben, zumindest sein Lebensabschnitt und Broterwerb. Die Pagan ist für diese Gewässer gebaut und viele Segler kreuzen wahrlich nicht durch diese polare Gegend.
Die Frage ist immer noch nicht beantwortet, oder? Was suchen wir hier? Das Besondere, Eindrücke, die über das Alltägliche hinausgehen?
Die Pioniere dieser Region führten noch einen ganz anderen Kampf. Nicht nur das kommerzielle Interesse trieb sie über den Rand der zivilisierten Welt hinaus. Viel zu oft waren es auch die Gier nach Ruhm, die Eitelkeit - gewiss gepaart mit einem Charakter, den man Pioniergeist nennt. Aber Sonderlinge waren es oft auch.
... Wie sehnen uns alle nach dem Besonderen.
Tausend zu eins gewettet, dass wir uns heute schon auf Tausend Koordinaten befanden, über die noch kein Schiff hinweg gefahren ist ...
Nein, das ist nun wirklich sehr platt. Aber wenn du sechs Tage nach Norden kreuzt, keimen Gedanken, ob die Insel auf der Karte nicht vielleicht ein Trugbild sei und das Trugbild am Horizont wahr. Vielleicht ist die Kompassscheibe verdreht und wir fahren sonstwohin?
Und wurden dann alle Zweifel geweckt und hat man erfahren, dass alles andere egal ist, und hat man dann den Punkt erreicht, an dem man während der Wache einfach nur auf die Kimm schaut und an gar nichts mehr denkt - dann hat man sich sein Spitzbergen verdient.
Drei Pilzchen heben sich am Horizont ab vom grauen Einerlei. Und zwei Stunden später - was im gewonnenen Zeitmaß nicht mehr ist, als ein Augenblick - sind sie sich zu einer Küstenfront ausgewachsen. Wir sehen die grauweiß melierte Felsenküste um die Stormbukta. Nun wird Svalbard real, Spitzbergen bleibt nicht länger Fiktion.

07.06. 0830, Kurs: 012°, FdW: 4,7 kn, Wind: N 6 kn, Wetter: 8/8, Luftdruck: 1008, Motoren, Eis voraus, Ausgang Hornesund
1200-2000 Eisfahrt, Wetter: 4/10-6/10 haben Mühe heraus zu kommen. Motorhebel abgebrochen, Schalten über Gaszug per Hand.
08.06. 0500 Kurs: 350° FdW: 4,4 kn, Wind: SO 10 kn, Wetter: 8/8 Schnee, Luftdruck: 1008, Gr. Besan, Segeln entlang der Packeiskante nach Norden
Eis liegt 35 NM vor dem Bellsundeingang!

Gespräche in der Messe - die Poesie der Ortsnamen
Nein, zu früh gefreut. Das Archipel ziert sich noch. Sieht man das Ufer bereits 24 Meilen von demselben entfernt, benötigt man ohnehin noch sechs Stunden, um es zu erreichen. Liegt dann vor dem Hornesund 15 Meilen tief das Packeis, sind wir vorerst einmal abgewiesen.
Zwei Mal hatte sich die Pagan beinahe fest gefahren. Die Aussicht, vor der polnischen Polarstation eventuell eines Eisbären ansichtig zu werden, erfüllte sich ebenso wenig wie das Versprechen, im Bellsund - alles von Spitzbergen an einem Fleck - Belugawale zu sehen.
Aber wer wird kleinlich immer nur daran denken, ein Highlight nach dem anderen abzuhaken? Uns hält es nicht mehr unter Deck. Mit verlangsamter Fahrt schlängeln wir uns um die gartengroßen Packeisstücke. Diese liegen nicht etwa wie Scherben des polaren Eises einfach da, nein, die bewegte See formte sie zu Individuen. Beinahe möchte ich jede der Skulpturen von allen Seiten fotografieren. Bei allen ist ein Fieber ausgebrochen, jeder schaut durch den Sucher, obwohl wir doch gerade am Finden sind.
Windstille. Wunderland. Vor einzigartiger, spitzbergiger Silhouette. Wind und Welle waren mit dem Eindringen ins Eis wie verschluckt. Ein feiner Duft nach Melone macht unsere Nasenlöcher weit. Der Geruchssinn ist ein bewertender. Blau ist blau, laut ist laut. Aber an jeden Stallgeruch gewöhnt man sich. Und auch an den Geruch des Meeres. Nach über einer Woche verliert sich das Gefühl, man nehme permanent isotonisches Nasenspray. Nach über einer Woche Segeln sieht man noch das Meer, aber man riecht es nicht mehr. Und nun weiß ich, warum Süßwasser Süßwasser genannt wird. Es riecht, verglichen mit dem Meer, nach süßer, saftiger Wassermelone!

Glücklich raus aus dem Eis, schlagen wir entlang der Packeiskante einen Bogen bis in den Forlandsundet, um vor Formkamna zu ankern. Das wäre dann 20 Meilen nördlich des 78. Breitengrades.
Die letzten Korrekturen der Zielkoordinaten verlängern die Reise um einen weiteren Tag. Die Wachen lösen sich ab, vom durchfrorenen Kameraden wird man geweckt, ein müder, verschlafener löst einen zwei Stunden später wieder ab. Neun Tage, ewiger Morgen, ein Zeitmaß nicht im Sekunden-, allenfalls im Zweistundentakt.
Und im Bemühen, sich irgendwie an Tag und Nacht zu erinnern, hält man an Frühstücks-, Mittags- und Abendbrotriten fest. Mindestens zu diesen Zeiten finden sich irgendwelche Konstellationen der sechs Besatzungsmitglieder in dem Salon zusammen. Nach einer guten Woche gemeinsam im Würfelbecher ist man mit allen Gerüchen der anderen vertraut. Und Stück für Stück gibt auch der eine mehr, der andere weniger von seinem Leben preis. Am schnellsten erfährt man, wo wer schon einmal gewesen ist. Bretagne, Madeira, Laos, Patagonien, immer wieder Karibik... der Erdball dreht sich in den Betrachtungen wie eine Kugel im Flipperautomat. Was bin ich für ein Provinzbub im Vergleich zu meinen Mitreisenden, die im Flieger so oft sitzen, wie ich in der S-Bahn. Doch heute, bei Suses Geburtstagskuchenparty, war eine andere Poesie der Ortsnamen zu vernehmen: Osterbekstraße, Barmbek Nord und Süd, Jarrestraße, Lohnkoppelstraße, Kemmererufer, Potgasse, Olpe, Kuh- und Balkenstraße .... Die Fahrensleute waren wieder vor der eigenen Haustür angelangt.

09.06. 0340 Laufen in den Forelandsundet ein. Vom Eis keine Spur. Der Anker fällt in der Eidernbukta.

Nicht nach Süden
wo unter Palmenwedeln
Wollust seufzt

Nach Norden
an des Lebens Rand
fährt Pagan
durch Packeis
in ein Land
im Handstreich
nicht zu nehmen

Nur mit Zeit!
Kurs 0°
4 Knoten
näher Dich
mit Schrittgeschwindigkeit

Und bist Du reif,
zeigt erhaben
sich ein Reich
Weiß, klar, rein
edler noch
als Elfenbein

In Stille
dass Du vor Dir
selbst erschrickst

Macht klein
macht groß
Bezwinger
und Bezwungene

Nach einer Woche, treibend zwischen Himmel und Meer, fällt endlich der Anker im Forelandsundet. Drei Tage polare Sonne.
Imposant, wie Spitzbergen seinem Namen gerecht wird, wie seine Gipfel gleich scharfer Zähne in den Himmel beißen. Nach zehn Tagen Seereise unternahmen wir in der Eidembukta den einzigen Landgang, einen ausgedehnten Spaziergang über Geröllmoränen und Schneefelder. Die nächsten Menschen, 60 Seemeilen entfernt. Rentiere schauen uns Eindringlinge neugierig an, umkreisen uns in geringer Entfernung. Gegenseitiges Bestaunen. Die drolligen, schweinsgroßen Verwandten der Hirsche ernähren sich hier, in dem, was man auf dem ersten Blick Einöde nennen würde, von den nach ihnen benannten Flechten. Roter und gelber Steinbrech blüht bei vier Grad. Hätte die Schneekönigin Kai nicht verführt und sich damit bei mir alle Sympathien verspielt, wäre sie nur diese kühle, schöne Regentin, sähe ich die ganze Insel als ihr Schloss. Die majestätischen Berge als dessen Türme, und hier wo wir wandeln der Garten...

10.06. 1000 Anker auf. Kurs Tygskamner (Belugawale)
11.06. 2100 Fest am Steg in Longyearbyen

Trip gesamt 823 NM

Ich danke Reinhard, Kai, Doris, Suse und Uli für das angenehme gemeinsame Erleben.
Jan

 



Tromsø


Eisbärspuren


Walross oder ...?


Fuchsfalle


Spitzbergen-Rentier


Walwirbel


Trottellumme


sibirisches Holz


Prins Karls Forland